Transkript
FORTBILDUNG
Antiemetische Therapie bei Tumorpatienten
Wie Übelkeit und Erbrechen verursacht werden und was man dagegen tun kann
Neben Schmerzen gehören Übelkeit und Erbrechen zu den unangenehmsten Symptomen
Merksätze
einer Krebserkrankung. Sie können im Rahmen
der Therapie als unerwünschte Arzneimittel-
wirkungen (UAW) auftreten, aber auch als
Folge der Erkrankung selbst, insbesondere in
fortgeschrittenen Stadien.
ARZNEIMITTELBRIEF
In den letzten 15 Jahren wurden wesentliche Fortschritte in der antiemetischen Therapie gemacht. Sie haben dazu beigetragen, die Lebensqualität von Krebspatienten während und nach der Chemo- und/oder Strahlentherapie zu verbessern. Zu unterscheiden ist die supportive Anwendung von Antiemetika mit dem Ziel, die UAW einer kurativ oder palliativ intendierten Chemo- und/oder Strahlentherapie zu verhindern oder zumindest zu lindern (supportive care), von dem Einsatz antiemetisch wirkender Medikamente im Rahmen der Palliativmedizin (palliative care). Gemeinsam ist jedoch das Ziel, nämlich die Lebensqualität von Patienten mit malignen Tumoren zu verbessern. Diese Übersicht konzentriert sich auf die antiemetische Behandlung von Patienten mit malignen Tumoren, wohl wissend, dass die Palliativmedizin auch die Behandlung anderer unheilbarer fortgeschrittener Erkrankungen beinhaltet.
Pathophysiologie von Übelkeit und Erbrechen Der Pathophysiologie von Übelkeit und Erbrechen liegt ein komplexes Zusammenspiel zwischen Gastrointestinaltrakt, Hirnstamm und Cortex zugrunde, das noch nicht in allen Einzelheiten geklärt ist (1, 2). Übelkeit ist eine mit dem Drang zu Erbrechen verbundene Empfindung, die von kortikalen Bereichen ausgeht. Begleitend besteht eine vegetative Symptomatik des sympathischen und parasympathischen Nervensystems. Durch die Erregung des Brechzentrums in der Formatio
■ Durch die 5-HT3-Serotonin-Rezeptorantagonisten und durch den Neurokinin1-Rezeptorantagonisten Aprepitant wurde die antiemetische Behandlung wesentlich verbessert.
■ Ein besseres Verständnis der Pathophysiologie von Übelkeit und Erbrechen hat die Entwicklung neuer Antiemetika ermöglicht.
■ Für die prophylaktische Behandlung von chemooder strahlentherapieinduzierter Übelkeit und Erbrechen gibt es aktuelle Leitlinien. Sie basieren allerdings überwiegend auf Studien, die von der pharmazeutischen Industrie konzipiert und finanziell unterstützt wurden.
■ Die Datenlage für die symptomatische Behandlung von Übelkeit und Erbrechen bei Patienten mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen ist unbefriedigend.
reticularis der Medulla oblongata wird Erbrechen ausgelöst. Zum Brechzentrum gehören unterschiedliche Kerngruppen. Erbrechen ist ein komplexer Fremdreflex, der durch periphere (viszerale oder vestibuläre) und zentrale Afferenzen oder durch direkte Aktivierung der Chemorezeptortriggerzone ausgelöst werden kann. Hierbei sind eine Reihe unterschiedlicher Neurotransmitter wie Dopamin, Substanz P, Serotonin und Acetylcholin und deren Rezeptoren beteiligt. Die Neurotransmitter Serotonin, Substanz P und Dopamin mit ihren entsprechenden Rezeptoren scheinen die grösste Bedeutung für das zytostatikainduzierte Erbrechen zu haben (2). Bei strahlentherapieinduzierter Übelkeit und Erbrechen spielt Serotonin die wichtigste Rolle. Die Chemorezeptortriggerzone in der Area postrema am Boden des vierten Ventrikels ist das Gebiet im Hirnstamm für die Aufnahme emetogener chemischer Reize aus dem Blut und dem Liquor (2). Die Area postrema besitzt keine Blut-Hirn-Schranke, sodass chemische Noxen wie Zytostatika und deren Metabolite
ARS MEDICI 4 ■ 2008 157
FORTBILDUNG
Tabelle 1: Emetogenes Potenzial verschiedener intravenös (oben) und oral (unten) zu applizierender Zytostatika, monoklonaler Antikörper, Tyrosinkinasehemmer und
Proteasominhibitoren (mod. nach 5, 10)
Hoch* (> 90%)
Cisplatin Mechlorethamin Streptozotocin Cyclophosphamid ≥ 1500 mg/m2 Carmustin Dacarbacin Dactinomycin
Moderat* (30–90%)
Oxaliplatin Cytarabin > 1 g/m2 Carboplatin lfosfamid Cyclophosphamid ≥ 1500 mg/m2 Doxorubicin Daunorubicin Epirubicin Idarubicin Irinotecan
Niedrig* (10–30%)
Paclitaxel Docetaxel Mitoxantron Topotecan Etoposid Pemetrexed Methotrexat Mitomycin Gemcitabin Cytarabin 1 g/m2 5-Fluorouracil Bortezomib Cetuximab Trastuzumab
Minimal* (< 10%)
Bleomycin Busulfan 2-Chlorode Oxyadenosin Fludarabin Vinblastin Vincristin Vinorelbin Bevacizumab Rituximab
Hexamethylmelamin Procarbacin
Cyclophosphamid Etoposid Temozolomid Vinorelbin Imatinib
Capecitabin Fludarabin
Chlorambucil Hydroxyurea L-Phenylalanin mustard 6-Thioguanin Methotrexat Erlotinib
* = Gruppen entsprechen dem erwarteten Risiko ohne antiemetische Prophylaxe (in Prozent)
Tabelle 2: Prophylaktische, an das Risiko adaptierte, antiemetische Therapie bei Chemotherapie (mod. nach 5, 11 )
Emetogenes Risiko der Chemotherapie Hoch
Moderat
Niedrig Minimal
Prophylaktische antiemetische Therapie
5-HT3-Rezeptorantagonist am Tag 1 Dexamethason am Tag 1, 2, 3 Aprepitant am Tag 1, 2, 3 1 5-HT3-Rezeptorantagonist am Tag 1 Dexamethason am Tag 1 2,3 Dexamethason am Tag 14 keine routinemässige antiemetische Prophylaxe
1 Empfehlung beruht auf zwei prospektiven randomisierten Studien des Herstellers.
2 Plus Aprepitant am Tag 1, 2, 3 bei Kombination von Anthrazyklin plus Cyclophosphamid. Diese Empfehlung basiert auf nur einer Studie des Herstellers bei Patientinnen mit Mammakarzinom. Nach den MASCC-Leitlinien gilt diese Empfehlung deshalb nur für Frauen.
3 Bei moderat emetogener Chemotherapie (ausser Anthrazyklin/Cyclophosphamid) mit einem «signifikanten» Risiko für Späterbrechen empfehlen die MASCC-Leitlinien vorzugsweise Dexamethason per os am Tag 2 und den folgenden Tagen, die ASCO-Leitlinien Dexamethason oder einen 5-HT3-Rezeptorantagonisten. Die Studienlage spricht hier für die MASCC-Empfehlung.
4 niedriges Evidenzniveau
oder durch Zytostatika freigesetzte Mediatoren direkt auf die Chemorezeptortriggerzone einwirken. Im Rahmen des Reflexbogens wird dem Nucleus tractus solitarii eine Koordinationsfunktion zugeschrieben. Es enden hier afferente Nervenbahnen, über die emetogene Stimuli aus dem Gastrointestinaltrakt zum zentralen Nervensystem gelangen. Antizipatorisches Erbrechen, das vor allem im Sinne einer Konditionierung nach vorausgegangenen Erfahrungen von Übelkeit und Erbrechen im Zusammenhang mit einer Chemotherapie auftritt, wird von kortikalen Bereichen ausgelöst (1, 2).
Durch Chemotherapie induzierte Übelkeit und Erbrechen Klinische Formen: Klinisch werden drei Formen von zytostatikainduzierter Übelkeit und Erbrechen unterschieden (2, 3). Diese Unterteilung ist bedeutsam, da für die drei Formen unterschiedliche Mechanismen verantwortlich sind und sich deshalb die Behandlung unterscheidet: ■ Akute Übelkeit und akutes Erbrechen tre-
ten innerhalb der ersten 24 Stunden nach Beginn der Chemotherapie auf. In tierexperimentellen und klinischen Studien wurde gezeigt, dass für das frühe Erbrechen nach Cisplatin die Freisetzung von Serotonin aus den enterochromaffinen Zellen des Darms verantwortlich ist (2). 5-HydroxytryptminRezeptorantagonisten vom Subtyp 3 (5-HT3Rezeptorantagonisten) vermindern deutlich die Häufigkeit des Früherbrechens (4). ■ Verzögert auftretende Übelkeit und verzögert auftretendes Erbrechen (Späterbrechen) beginnen frühestens 24 Stunden nach Beginn der Chemotherapie und sind üblicherweise am zweiten und dritten Tag am stärksten. Diese Form kann auch nach Ende der Chemotherapie mehrere Tage lang anhalten. Als wichtigster Mediator des verzögerten Erbrechens wird die Substanz P angesehen (4). Deshalb sind 5-HT-Rezeptorantagonisten beim verzögerten Erbrechen ohne wesentliche Wirkung. Dagegen ist der Neurokinin-Rezeptorantagonist Aprepitant (Emend®) vor allem gegen verzögert auftretende Übelkeit und Erbrechen wirksam (4). Akutes Erbrechen ist der wichtigste prädiktive Faktor für das Auftreten von Späterbrechen. Bei Patienten nach Cisplatingabe, die schon während der ersten 24 Stunden erbrechen mussten, tritt ungefähr drei- bis viermal häufiger Späterbrechen auf als bei Patienten ohne akutes
158 ARS MEDICI 4 ■ 2008
ANTIEMETISCHE THERAPIE BEI TUMORPATIENTEN
Erbrechen (5). Da Späterbrechen nach Chemotherapie bei den meisten Patienten zu Hause auftritt, muss vor der nächsten Chemotherapie danach gefragt werden, um daraus Konsequenzen für die weitere antiemetische Prophylaxe zu ziehen. ■ Antizipatorische Übelkeit und antizipatorisches Erbrechen treten vor Beginn der Chemotherapie als klassische Konditionierung nach vorausgegangenen Episoden von akutem oder verzögertem Erbrechen auf. Das Risiko für antizipatorische Übelkeit und antizipatorisches Erbrechen nimmt mit der Zahl der Chemotherapiezyklen zu. Diese Form tritt äusserst selten auf, wenn akute beziehungsweise verzögerte Übelkeit und Erbrechen bei vorausgegangenen Chemotherapien erfolgreich verhindert wurden (6).
Nach einer Chemotherapie tritt Übelkeit häufiger auf als Erbrechen, doch besteht eine enge Korrelation zwischen beiden Symptomen.
Risikofaktoren Das Risiko für zytostatikainduzierte Übelkeit und zytostatikainduziertes Erbrechen hängt wesentlich von der emetogenen Potenz der verabreichten Zytostatika ab (5, 7–9). Das emetogene Potenzial der Zytostatika wird im Vergleich mit der erwarteten Häufigkeit von Erbrechen ohne eine antiemetische Prophylaxe klassifiziert (Tabelle 1). Allerdings gibt es fundierte Daten über die Häufigkeit von Erbrechen nur für die Zytostatika, die vor der Ära der neuen Antiemetika eingesetzt wurden. Aus nahe liegenden Gründen kann heutzutage ein neues Zytostatikum nicht ohne eine adäquate, antiemetische Prophylaxe bei grösseren Patientengruppen untersucht werden, sodass das emetogene Potenzial nur abgeschätzt werden kann. Deshalb basiert die Beurteilung der emetogenen Potenz neuer Zytostatika überwiegend auf klinischen Erfahrungen und weniger auf systematisch erhobenen Daten. In den aktuellen Leitlinien der Multinational Association of Supportive Care in Cancer (MASCC) und der American Society of Clinical Oncology (ASCO) für die antiemetische Therapie werden, den Vorschlag der MASCC-Konsensuskonferenz aufnehmend, oral beziehungsweise intravenös verabreichte Zytostatika in vier Gruppen mit unterschiedlichem Risiko eingeteilt (5, 11, Tabelle 1). Zusätzlich beeinflussen patientenbezogene Faktoren und Umgebungseinflüsse das Risiko des Erbrechens (2). Beispielsweise neigen jüngere Patienten und Frauen stärker zu chemotherapieinduzierter Übelkeit und chemotherapieinduziertem Erbrechen als ältere Patienten und Männer. Chronischer Alkoholkonsum mindert das Risiko. Vorausgegangene Erfahrungen mit Übelkeit und Erbrechen erhöhen das Risiko ebenso wie eine unruhige, hektische Atmosphäre während der Chemotherapie.
Antiemetische Behandlung Ziel der antiemetischen Behandlung im Rahmen einer zytostatischen Chemotherapie ist es, durch prophylaktische Gabe von Antiemetika Übelkeit und Erbrechen zu verhindern. Die Verhinderung von akutem Erbrechen und akuter Übelkeit ist, wie
schon erwähnt, die wirksamste Massnahme gegen Späterbrechen beziehungsweise Übelkeit und antizipatorisches Erbrechen. Die leitlinienorientierte, prophylaktische antiemetische Therapie bei Chemotherapie richtet sich in erster Linie nach dem emetogenen Potenzial der verabreichten Zytostatika (Tabelle 2). 5-HT3-Rezeptorantagonisten – Ondansetron (Zofran® oder Generika), Granisetron (Kytril®), Tropisetron (Navoban®), Dolasetron (Anzemet®) sowie Palonosetron (Aloxi®) – haben in äquipotenten Dosierungen eine vergleichbare antiemetische Wirksamkeit und vergleichbare UAW (leichte Kopfschmerzen, vorübergehende Transaminasenerhöhung, Obstipation). Zwischen oraler und intravenöser Gabe gibt es ebenfalls keine Unterschiede in der Wirksamkeit. Die Hauptindikation der 5HT3-Rezeptorantagonisten in der supportiven Therapie und Palliativmedizin ist die Prophylaxe der chemotherapieassoziierten Übelkeit in den ersten 24 Stunden und des Früherbrechens sowie die Prophylaxe der Übelkeit und des Erbrechens in Verbindung mit Strahlentherapie (Dosierung der Antiemetika, Tabelle 3). Gegen Späterbrechen sind 5-HT3-Rezeptorantagonisten nicht wirksamer als Dexamethason. Der neue (2005) bisher nur intravenös verfügbare 5-HT3Rezeptorantagonist Palonosetron (Aloxi®) nimmt, im Vergleich mit den anderen 5-HT3-Rezeptorantagonisten, in den aktuellen Leitlinien trotz der höheren Rezeptoraffinität und längeren Halbwertszeit keine Sonderstellung ein (5, 11). Dexamethason ist für die antiemetische Therapie das Kortikosteroid der Wahl, da für Dexamethason die weitaus meisten Studiendaten vorliegen. Der genaue antiemetische Wirkmechanismus der Kortikosteroide ist nicht bekannt. Viele klinische Studien haben gezeigt, dass sie die Wirksamkeit der 5-HTRezeptorantagonisten und Neurokinin-Rezeptorantagonisten erhöhen. In der antiemetischen Prophylaxe wird eine einmalige Gabe pro Tag empfohlen (11). Zu den bei kurzzeitiger Gabe seltenen UAW von Dexamethason zählen Blutzuckererhöhung, epigastrische Schmerzen, eine Gesichtsrötung und Schlafstörungen. Aprepitant (Emend®) ist der erste und bisher einzige klinisch verfügbare Neurokinin-Rezeptorantagonist (12). Neurokininrezeptoren lassen sich unter anderem im Brechzentrum im Hirnstamm und im Magen-Darm-Trakt nachweisen. Durch spezifische Blockade der Neurokininrezeptoren kann experimentelles, durch verschiedene Stimuli induziertes Erbrechen verhindert werden. Hinsichtlich der UAW gab es in den bisherigen Phase-III-Studien keine signifikanten Unterschiede zwischen Aprepitant und Plazebo. Bemerkenswert ist jedoch, dass Aprepitant das Zytochrom-P-450-Enzym CYP3A4 mässig hemmt. Dadurch wird beispielsweise der Metabolismus von Dexamethason beeinflusst (10). Deshalb wird bei kombinierter Gabe von Aprepitant plus Dexamethason zur antiemetischen Prophylaxe am Tag 1 nur 12 mg statt 20 mg Dexamethason gegeben. Die CYP3A4-Hemmung könnte auch die Clearance einiger Zytostatika, die teilweise durch CYP3A4 metabolisiert werden, beeinflussen. Dazu gehören beispielsweise Docetaxel und Cyclophosphamid. Einen klinisch relevanten Effekt der CYP3A4-
ARS MEDICI 4 ■ 2008 159
FORTBILDUNG
Tabelle 3: Empfehlungen für die Dosierung der Antiemetika (mod. nach 5, 11 )
Antiemetikum/Dosierung Bemerkung
5-HT3-Rezeptorantagonisten
Ondansetron (Zofran® oder Generika) oral 24 mg (Tag 1) bei hoch emetogener i.v. 8 mg (Tag 1) Chemotherapie oral 16 mg (Tag 1) bei moderat emetogener i.v. 8 mg (Tag 1) Chemotherapie
Granisetron (Kytril®) oral 2 mg (Tag 1) iv. 1 mg (Tag 1)
bei hoch und moderat emetogener Chemotherapie
Tropisetron (Navoban®)
oral/i.v.
5 mg (Tag 1)
bei hoch und moderat emetogener Chemotherapie
Dolasetron (Anzemet®) oral/i.v. 100 mg (Tag 1)
bei hoch und moderat emetogener Chemotherapie
Palonosetron (Aloxi®) i.v. 0,25 mg (Tag 1)
bei hoch und moderat emetogener Chemotherapie
sind sie pharmakologisch nur schwer zu beeinflussen. Benzodiazepine wie Lorazepam (z.B. Temesta®) und Alprazolam (Xanax®) werden wegen ihrer anxiolytischen Wirkkomponente zur Vorbeugung und Behandlung von antizipatorischer Übelkeit und antizipatorischem Erbrechen eingesetzt, doch ist die Studienlage dafür dürftig (5, 14). Dagegen haben sich verhaltensmodifizierende Therapieformen in verschiedenen Studien als wirksam erwiesen (15).
Behandlung von «refraktärem Erbrechen» unter Chemotherapie Unter refraktärem Erbrechen in diesem Zusammenhang versteht man Erbrechen trotz adäquater antiemetischer Prophylaxe vor der zuletzt verabreichten Chemotherapie (5). In den ASCO-Leitlinien wird empfohlen, in dieser Situation sorgfältig alle Risiken für Erbrechen zu analysieren, das heisst die Chemotherapie, die Tumorerkrankung, die Begleiterkrankungen und die Komedikation (11). Es sollte nochmals sichergestellt werden, dass tatsächlich die optimale antiemetische Prophylaxe gegeben wird. Unter pharmakogenetischen Aspekten ist ein Wechsel auf einen anderen 5-HT3-Rezeptorantagonisten zu erwägen (16, 17). Die zusätzliche Gabe anderer antiemetisch wirksamer Substanzen, wie Metoclopramid, Benzodiazepine (s.o.), Haloperidol oder ein Phenothiazin, ist ebenfalls eine Option (5, 11).
Neurokinin1-Rezeptorantagonist Aprepitant (Emend®) oral 125 mg (Tag 1) bei hoch emetogener
80 mg (Tag 2, 3) Chemotherapie
Dexamethason
oral/i.v. oral/i.v.
12 mg (Tag 1) 8 mg (Tag 2, 3) 8 mg (Tag 1, 2, 3)
plus Aprepitant bei hoch emetogener Chemotherapie bei moderat emetogener Chemotherapie
Hemmung durch Aprepitant auf die Wirkung dieser Zytostatika wurde bisher jedoch nicht gezeigt. Trotzdem reichen die vorliegenden Daten nicht aus, den Einsatz von Aprepitant in der Onkologie als unbedenklich zu bezeichnen. Nach den aktuellen ASCO- und MASCC-Leitlinien haben schwächer antiemetisch wirksame Medikamente, wie der Dopaminantagonist Metoclopramid (z.B. Paspertin®), Neuroleptika, wie Haloperidol (Haldol®) oder Phenothiazine und Cannabinoide lediglich den Status von Reservemedikamenten zur Vorbeugung von Übelkeit und Erbrechen bei Chemotherapie (5, 11).
Antizipatorisches Erbrechen Bei einer optimalen antiemetischen Prophylaxe kommen heute antizipatorische Übelkeit und antizipatorisches Erbrechen nur noch sehr selten vor (13). Wenn diese Symptome auftreten,
Durch Strahlentherapie induzierte Übelkeit und Erbrechen Die Häufigkeit beziehungsweise das Risiko für strahlentherapieinduzierte Übelkeit und strahlentherapieinduziertes Erbrechen hängt von verschiedenen Faktoren ab, die mit der Behandlung und dem Patienten selbst assoziiert sind. Die Häufigkeit wird – abhängig vom Strahlenfeld – zwischen 40 und > 80 Prozent angegeben (5, 18). In einer systematischen Analyse im Rahmen einer Beobachtungsstudie erhöhte die Bestrahlungslokalisation (oberes Abdomen), die Grösse des Bestrahlungsfelds (> 400 cm2) und eine vorausgegangene Chemotherapie signifikant das Risiko (19). Die leitlinienorientierte antiemetische Therapie richtet sich nach dem emetogenen Risiko der Strahlentherapie (Tabelle 4). Nach einer aktuellen prospektiven, randomisierten Studie verringert Dexamethason zu Beginn der Strahlentherapie, zusätzlich zu Ondansetron gegeben, bei einer moderat emetogenen Strahlentherapie die Häufigkeit von Erbrechen (20).
Krankheitsassoziierte Übelkeit und Erbrechen Es gibt nur wenige prospektive, randomisierte Studien zur antiemetischen Behandlung bei Patienten mit fortgeschrittenen malignen Tumoren, die bei kleinen Fallzahlen teilweise uneinheitliche Ergebnisse zeigen. In einer Übersichtsarbeit von Glare et al. zu dieser Thematik lautet deshalb das Fazit: «The evidence base for the pharmacological treatment of nausea and vomiting in advanced cancer practiced by palliative care specialists is generally weak and contradictory (21).»
160 ARS MEDICI 4 ■ 2008
ANTIEMETISCHE THERAPIE BEI TUMORPATIENTEN
Tabelle 4: Prophylaktische, an das Risiko adaptierte antiemetische Therapie bei palliativer
Strahlentherapie (mod. nach 5, 11 )
Emetogenes Risiko der Strahlen- Antiemetische
therapie nach Lokalisation
Behandlung
Moderat (60–90%) oberes Abdomen
Prophylaxe mit 5-HT3Rezeptorantagonisten
Niedrig (30–59%) unterer Thorax, Becken, Kopf (Radiochirurgie), kraniospinal
Prophylaxe oder RescueTherapie mit 5-HT3Rezeptorantagonisten1
Minimal (30%) Kopf, Hals, Brust, Extremitäten
Rescue mit DopaminRezeptorantagonisten oder 5-HT3-Rezeptorantagonisten
1 = niedriges Evidenzniveau
Tabelle 5: Ursachen für Erbrechen bei fortgeschrittenen Krebserkrankungen (mod. nach 24)
Art, Lokalisation der Schädigung
Ursachen
Pharyngeale Irritation
Mundsoor, Schleimhautulzerationen, zähes Sputum
Gastrointestinale Irritation
Motilitätsstörungen (obstruktiv, paralytisch), Ulzera, Obstipation, Lebermetastasen, Aszites
ZNS-Veränderungen
Hirndruck, Meningeosis carcinomatosa, Entzündungen
Metabolische Störungen
Hyperkalziämie, Urämie, Hyponatriämie, Leberversagen
Unerwünschte
Opioide, Antibiotika, NSAR, Digitalis,
Arzneimittelwirkungen Eisenpräparate u.a.
Toxisch
Chemotherapie, Strahlentherapie, paraneoplastisch, Infektionen
Psychische Störungen Angst, Stress, Schmerzen
Grundsätzlich gibt es bei antiemetischer Therapie bei Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen zwei Herangehensweisen: Eine Behandlung, die sich an der Ursache des Erbrechens orientiert (Tabelle 5), und eine rein empirische Behandlung. Selbstverständlich sollten behandelbare Ursachen gezielt therapiert werden, wie zum Beispiel Bisphosphonat bei Hyperkalziämie, antimykotische Behandlung bei Mundsoor, Strahlentherapie bei Hirnmetastasen. Bei den übrigen Patienten sind beide Vorgehensweisen bei einem Teil der Patienten erfolgreich. Welche Vorgehensweise
bei unselektierten Patienten effektiver ist, kann nicht gesagt
werden, da sie bisher nicht direkt miteinander verglichen
wurden.
Es gibt zumindest einzelne kontrollierte Studien, jeweils auf der
Basis einer ursächlichen Behandlung von Übelkeit und Erbre-
chen, bei Patienten mit fortgeschrittenen Tumoren. Bei Moti-
litätsstörung des Magens mit Übelkeit und Dyspepsie hat
Metoclopramid mit 75 Prozent eine relativ hohe Erfolgsrate
(22). Dagegen ist die Wirksamkeit von Metoclopramid bei rein
empirischem Einsatz bei Tumorpatienten mit Übelkeit mit
30 Prozent deutlich geringer (21).
Kortikosteroide haben bei Patienten mit obstruktivem Ileus bei
fortgeschrittenen gastrointestinalen beziehungsweise gynäko-
logischen Tumoren einen eindeutigen, wenn auch relativ klei-
nen Effekt (23).
Notgedrungen werden in der täglichen Praxis bei Patienten mit
fortgeschrittenen Krebserkrankungen und erfolgloser ursäch-
licher medikamentöser Behandlung von Übelkeit und Erbre-
chen oft «Versuch und Irrtum» die Therapie bestimmen, wie
dies auch in anderen Gebieten der Palliativmedizin der Fall ist.
Dabei kommen verschiedene Medikamente mit unterschied-
licher antiemetischer Wirkung zum Einsatz, obwohl für ihre
Wirksamkeit nur eine schwache Evidenz bei dieser Patienten-
gruppe vorliegt. Dazu gehören: Haloperidol, Levomepromazin,
Dimenhydrinat, Cannabinoide, Octreotid und andere (21, 24, 25).
Der Effekt nicht-pharmakologischer Methoden ist bei dieser
Patientengruppe ebenfalls aufgrund fehlender Daten unklar. ■
Literatur 1. Schwörer, H., und Ramadori, G.: Dtsch. Med. Wochenschr. 1997, 122, 1014. 2. Späth-Schwalbe, E. et al.: Dtsch. Ärztebl. 2001, 98, A924. 3. Iser, W., und Berger, A.: Oncology (Williston Park) 2005, 19, 637. 4. Hesketh, P.J. et al.: Eur. J. Cancer 2003, 39, 1074. 5. Roila, F. et al.: MASCC = Multinational Association of Supportive Care 2006, 17, 20 6. Morrow, G.R. et al.: J. Pain Symptom Manage. 1991, 6, 215. 7. Hesketh, R.J. et al.: J. Clin. Oncol. 1997, 15, 103. 8. AMB 1997, 31, 93. 9. AMB 1999, 33, 52. 10. Grunberg, S.M. et al.: Support. Care Cancer 2005, 13, 80. 11. Kris, M.G. et al.: J. Clin. Oncol. 2006, 24, 2932. 12. AMB 2005, 39, 9. 11. Aapro, M.S. et al.: Support. Care Cancer 2005, 13, 117. 14. Malik, I.A. et al.: Am. J. Clin. Oncol. 1995, 18, 170. 15. Redd, W.H. et al.: J Natl. Cancer Inst. 2001, 93, 810. 16. De Wit, R. et al.: Br. J. Cancer 2001, 85, 1099. 17. Kaiser, R. et al.: J. Clin. Oncol. 2002, 20, 2805. 18. Horiot, J.C.: Int. J. Radiat. Oncol. Biol. Phys. 2004, 60, 1018. 19. The Italian Group for Antiemetic Research in Radiotherapy: Irit. J. Radiol. Oncol. Biol. Phys.
1999, 44, 619. 20. Wong, R.X. et al.: J. Clin. Oncol. 2006, 24, 3458. 21. Glare, P. et al.: Support. Care Cancer 2004, 12, 432. 22. Bruera, E. et al.: J. Pain Symptom Manage. 2000, 19, 427. 23. Feuer, D.J. und Broadley, K.E.: Cochrane Database Syst. Rev. 2000, CD001219. 24. Lagman, R.L. et al.: Surg. Clin. North Am. 2005, 85, 237. 25. Rhodes, V.A. und McDaniel, R.W.: CA Cancer J. Clin. 2001, 51, 232. Erratum in: CA Cancer J.
Clin. 2001, 51, 320. 26. Schwabe, U. und Paffrath, D.: Arzneiverordnungs-Report 2006. Springer, Berlin,
Heidelberg, New York. S. 82 und 982.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Arzneimittelbrief» Nr. 2, Februar 2007. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber D. von Herrath und W. Thimme.
ARS MEDICI 4 ■ 2008 161