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FORTBILDUNG
Arthroseschmerz: Besser behandeln nach gutem Zuhören
Zur Evaluierung der Schmerzerfahrung bei Osteoarthrose ist eine biopsychosoziale Herangehensweise erforderlich. Zur Erfassung unterschiedlicher Aspekte und Auswirkungen der Schmerzen stehen standardisierte Instrumente auf der Basis von Interviews oder Skalen zur Verfügung.
CURRENT OPINION IN RHEUMATOLOGY
Schmerzen sind die Schlüsselbeschwerden bei Patienten mit Arthrose. Eine schmerzhafte Arthrose führt zu physischer Einschränkung, verminderter Eigenständigkeit und vermehrter Inanspruchnahme des Gesundheitssystems. Die schmerzhafte Arthrose ist mit Schlafstörungen und psychischem Stress verbunden. Zudem gehört sie zu den Hauptursachen für den Hausarztbesuch und ist häufig die Ursache der Entscheidung für einen Gelenkersatz. Bisher wurde dem Schmerz bei Arthrosepatienten wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Gillian A. Hawker vom Women’s College Hospital in Toronto (Kanada) hat in einem Review die neuesten Fortschritte zum Verständnis und zur Evaluierung von Schmerzen bei Arthrosepatienten zusammengestellt.
Was haben wir vom Zuhören gelernt? In einer Studie mit 42 Patienten, die an Hüft- oder Kniearthrose in allen Stadien litten, ging aus Fokusgruppen und Interviews hervor, dass die Schmerzerfahrung anhand von fünf Themenbereichen charakterisiert werden kann:
Merksätze
❖ Die arthrosebedingte Schmerzerfahrung ist multidimensional und umfasst biologische, psychische und soziale Faktoren.
❖ Bei der Erfassung sollte die unterschiedliche Kommunikation der Schmerzerfahrung bei Männern und Frauen berücksichtigt werden.
❖ Zur Erfassung unterschiedlicher Aspekte und Auswirkungen der Schmerzen stehen standardisierte Instrumente auf der Basis von Interviews oder Skalen zur Verfügung.
❖ Schmerzcharakteristika wie Intensität, Qualität, Lokalisierung, Häufigkeit, Dauer und Variation
❖ Schmerzbeeinflussende Faktoren wie bestimmte Aktivitäten oder Wetterumschwung
❖ Modifizierungen zur Schmerzbewältigung etwa die Einnahme von Medikamenten oder die Art der Durchführung von Aktivitäten
❖ Auswirkungen der Schmerzen wie Veränderungen der Aktivitäten, der Mobilität und der Stimmungslage
❖ Die Wahrnehmung der Schmerzintensität etwa durch Vergleiche mit anderen oder Gespräche mit Familie und Freunden über die Schmerzen.
Zwei zusätzliche qualitative Studien bestätigten die Multidimensionalität der arthrosebedingten Schmerzerfahrung. Beide Untersuchungen kamen zu dem Ergebnis, dass Patienten mit Hüft- oder Kniearthrose den Schmerz nur schwer von der Funktionsfähigkeit trennen konnten. In einer der beiden Studien wurde zudem festgestellt, dass die Beschreibung der Schmerzen sehr unterschiedlich war und von Schmerzen in anderen Körperbereichen beeinflusst wurde. Die Patienten entwickelten vielfältige Bewältigungsstrategien inklusive Anpassung und Vermeidung. Zur Beschreibung der Schmerzen wurden unterschiedliche Begriffe wie «scharf», «brennend» oder «bohrend» verwendet. Die Patienten beschrieben zudem zwei verschiedene Schmerzarten. Dabei handelte es sich zum einen um einen dumpfen, ziehenden, bohrenden Schmerz, der mit kürzeren Episoden eines intensiveren oder stechenden Schmerzes durchsetzt war. Mit der Zeit sprachen die Patienten öfter von einem scharfen oder intensiven Schmerz als von «ziehend», um ihre Beschwerden zu beschreiben. Entsprechend den Antworten im Rahmen eines modifizierten Patient Generated Index (PGI) gehören ausser der Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit auch die Intensität und die Qualität der Schmerzen sowie die Auswirkungen auf die Schlafqualität und die Stimmung und manchmal auch die Unvorhersehbarkeit von Schmerzepisoden zu den belastendsten Faktoren. Vor allem die Unvorhersehbarkeit von Exazerbationen führt zu einem beträchtlichen Rückzug von der Teilnahme an sonst gerne ausgeführten Aktivitäten. Die Schmerzen bei Hüftarthrose unterschieden sich von denen der Kniearthrose. Die Unvorhersehbarkeit war fast ausschliesslich mit Arthrose im Knie und oft mit Wegknicken oder Blockierung des Gelenks verbunden. Im Gegensatz dazu wurden die Schmerzen bei Arthrose in der Hüfte mit der Zeit vorhersehbarer. Teilnehmer mit Hüftarthrose verwendeten
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drastischere Begriffe zur Schmerzbeschreibung wie «Eispickel», «Spitzhacke» oder «lähmend» als Patienten mit Kniearthrose. Zudem verglichen Hüftpatienten ihren Schmerz oft mit anderen Schmerzerfahrungen wie «Kinder gebären», «Knochenbrüche» oder «Operationen». In einer anderen Studie wurden auf ähnliche Weise die Schmerzerfahrungen von 56 Personen aus 5 europäischen Ländern mit Arthrose in der Hand untersucht. Auch hier lieferten die Teilnehmer detaillierte Beschreibungen zu speziellen Schmerzempfindungen («schneidet wie ein Messer»), der Schmerzintensität (leicht vs. «Schmerz bringt mich um») und der Verbindung des Schmerzes mit der Aktivität. Die Patienten beschrieben zudem ihre Strategien zur Schmerzbewältigung. Dazu gehörten das Tragen von Handschuhen, die Modifizierung der Umgebung (z.B. Kauf leichterer Töpfe oder Pfannen), das Durchziehen ihrer Aktivitäten trotz des Schmerzes und die Vermeidung schmerzhafter Aktivitäten. Auch Patienten mit Arthrose in den Händen berichteten ähnlich wie Patienten mit Hüftund Kniearthrose über beträchtliche psychische Auswirkungen wie Angst, Frustration und Ärger sowie über negative Auswirkungen auf den Schlaf und über Fatigue.
Geschlechtsspezifische Unterschiede Aus einer Untersuchung mit dem neuartigen Verfahren der vergleichenden Schlüsselwortanalyse ging hervor, dass sowohl Männer als auch Frauen über die Unterstützung durch den Partner sprachen, wobei Frauen deren Bedeutung mehr betonten. Männer sprachen geschäftsmässiger und sachlicher über ihre schmerzbedingten Probleme und verwendeten dazu weniger drastische Begriffe als Frauen. Diese unterschiedlichen Kommunikationsstile könnten somit zu einer Unterversorgung bei der Behandlung führen und sollten daher nach Ansicht der Autorin weiter untersucht werden.
Schmerz und Schlaf Die Auswirkungen auf den Schlaf werden von den meisten Patienten als die belastendsten Merkmale der arthrosebedingten Schmerzerfahrung beschrieben. Der Zusammenhang zwischen Hüft- oder Knieschmerzen mit der subjektiven Schlafqualität wurde im gemeindebasierten Johnston County Osteo Arthrose Project untersucht. Dabei kamen Schlafstörungen aller Art sowie Insomnie und nicht ausreichender Schlaf bei Patienten mit Hüft- oder Kniearthrose häufiger vor als bei schmerzlosen gesunden Personen, auch nach Adjustierung für depressive Verstimmungen und selbst eingeschätzte Gesundheit. Aus einem Review zu zehn plazebokontrollierten Studien geht hervor, dass Patienten, die Opioidanalgetika erhielten, sowohl eine Schmerzlinderung als auch eine verbesserte Schlafqualität mit weniger häufigem Aufwachen und verlängerter Schlafdauer erfuhren. Dieses Ergebnis stützt die Notwendigkeit einer verbesserten Schmerzkontrolle und der Bedeutung der Evaluierung des Schlafs bei Arthrosepatienten.
Arthrose ist mit Fatigue verbunden Bis vor Kurzem wurde Fatigue nicht als ein Charakteristikum bei Arthrose erachtet und demzufolge kaum untersucht. In einer Studie konnte jedoch gezeigt werden, dass ähnliche Anteile an Patienten mit rheumatoider Arthritis und Osteoarthrose über klinisch signifikante Fatigue während der
Woche vor Studienbeginn klagten. Im Rahmen dieser Untersuchung erfüllten 41,7 Prozent der Patienten mit rheumatoider Arthritis und 41,1 Prozent der Arthrosepatienten die Kriterien einer klinisch bedeutsamen Fatigue. In dieser und anderen Studien war die Fatigue eindeutig mit der Schmerzerfahrung verbunden.
Was können wir aus der Schmerzbeschreibung über die Schmerzmechanismen lernen? Eine zunehmende Evidenz weist darauf hin, dass es bei der chronischen schmerzhaften Arthrose zu einer zentralen Sensibilisierung mit einem veränderten Empfinden von Wärme, Kälte, Berührung und Druck und einer Veränderung der Schmerzqualität wie ausstrahlenden Schmerzen oder Taubheitsgefühlen sowie zu kribbelnden, brennenden und tiefen Knochenschmerzen kommen kann. In einer Studie mit 62 Patienten, die an Kniearthrose litten, und 22 schmerzfreien gesunden Kontrollpersonen wurde bei den Arthrosepatienten eine signifikant niedrigere Schmerzschwelle festgestellt, was auf eine mit der zentralen Sensibilisierung konsistente Hyperalgesie hinweist. Niedrigere Schmerzschwellen waren mit intensiveren Schmerzen, einer ausgeprägteren arthrosebedingten Beeinträchtigung und einer niedrigeren Lebensqualität verbunden. Eine grössere Aufmerksamkeit gegenüber den Worten, mit denen Patienten ihre Schmerzen beschreiben, könnte Rückschlüsse auf den Verlauf und somit auf die bestmögliche Behandlung der arthrosebedingten Schmerzen erlauben. Arthrosepatienten verwenden häufig Worte zur Schmerzbeschreibung, die mit der zentralen Sensibilisierung assoziiert sind. In einer portugiesischen Studie verwendeten Osteoarthrosepatienten am häufigsten die Deskriptoren pochend (65%), springend (56%), ermüdend (82%), zermürbend (69%), lästig (59%) und stechend (52%), wobei Letzterer auf neuropathische Schmerzen hinweist.
Welche Erfassungsinstrumente sind hilfreich? Die subjektive arthrosebedingte Schmerzerfahrung stellt ein Hindernis bei der quantitativen Erfassung dar. Mittlerweile wurden neben Instrumenten zur Erfassung der allgemeinen Gesundheit wie dem SF-36-Fragebogen auch spezielle Skalen zur Evaluierung der Schmerzen bei Arthrose, wie der Western Ontario McMaster Universities Osteoarthritis Index (WOMAC), entwickelt. Sowohl in der klinischen Praxis als auch in der Forschung können die Schmerzen am besten mit standardisierten Fragebögen evaluiert werden, die entweder vom Interviewer oder vom Patienten selbst ausgefüllt werden. In einem Review wurden gebräuchliche Instrumente zur Erfassung von Schmerz bei Arthrose und anderen rheumatischen Erkrankungen zusammengefasst. Für Arthrosepatienten waren dies zum einen allgemeine Schmerzmessinstrumente wie die Visuelle Analog-Skala (VAS), eine numerische Skala zur Einschätzung des Schmerzes, der Mc Gill Pain Questionaire (MPQ) sowie der SF-36-Fragebogen zum Gesundheitszustand. Dazu kamen ergänzend arthrosespezifische Instrumente wie der WOMAC, der speziell für Hüft- und Kniearthrose entwickelt wurde, und der Australian/Canadian Hand OsteoarthritisIndex (AUSCAN), der mit Bezug auf Arthrose in den Händen erstellt wurde. Ausserdem gibt es noch weitere Erfassungsinstrumente, die aber weniger häufig verwendet werden.
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Eine Untersuchung zur Validität von elf dieser Instrumente ergab, dass die meisten die Schmerzcharakteristika und die Auswirkungen der Schmerzen oder beide Aspekte erfassten, wobei Instrumente zur Evaluierung der Schmerzcharakteristika meist nur die Schmerzintensität erfassen. Nur der Vanderbilt Pain Management Inventory evaluiert auch Modifizierungen zur Schmerzbewältigung und Diskussionen über die Schmerzen, während nur der WOMAC zusätzliche Faktoren berücksichtigt, die den Schmerz beeinflussen. Eine andere Studie untersuchte sechs Instrumente zur Schmerzerfassung bei Arthrose in den Händen. Hier kamen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass AUSCAN und der Functional Index for Hand Osteoarthritis lediglich die Lokalisierung der Schmerzen und die Relation zur Aktivität gut abdeckt. Um diese Lücke zu schliessen, wurde mit OMERACT/ OARSI (Outcome Measures in Rheumatoid Arthritis Clinical Trials/Osteoarthritis Research Society International) ein neues Instrument zur Erfassung arthrosebedingter Schmerzen entwickelt: das Intermittent and Constant Osteoarthritis Pain Instrument (ICOAP). Es beinhaltet zwei Subskalen: eine für dauerhaften Schmerz und eine für intermittierenden Schmerz. Jede Unterskala evaluiert die Schmerzintensität, die Auswirkungen auf den Schlaf, die Auswirkungen auf die Lebensqualität sowie das Ausmass,
in dem die Schmerzen den Betroffenen frustrieren oder ver-
ärgern, und das Ausmass, in dem die Schmerzen Sorgen und
Aufregung verursachen. Der ICOAP wird derzeit einer psy-
chometrischen Evaluierung unterzogen. Eine erste Evidenz
weist jedoch darauf hin, dass das neue Instrument verlässlich,
valide und auf Veränderungen ansprechend ist.
Ein anderes neues Instrument ist Osteoarthritis Knee and Hip
Quality of Life (OAKHQOL). Es wurde entwickelt, um die
Lücke bei der Evaluierung der Lebensqualität bei Hüft- und
Kniearthrosen zu füllen. Dieser Aspekt wird hier durch In-
terviews mit Patienten und Gesundheitsfachkräften unter-
sucht. Das OAKHQOL erfasst viele als bedeutsam identifi-
zierte Aspekte des Schmerzes inklusive der Auswirkungen
auf die Stimmung und den Schlaf, der Häufigkeit und der In-
tensität der Schmerzen und Gesprächen mit anderen Perso-
nen. Der OAKHQOL erfasst jedoch nicht die Natur und die
Qualität des Schmerzes an sich.
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Petra Stölting
Hawker Gillian A: Experiencing painful osteoarthritis: What have we learned from listening? Curr Opin Rheumatol 2009; 21(5): 507–512.
Interessenkonflikte: keine Angaben dazu im Beitrag.
BEKANNTMACHUNG
Chronischer Schmerz – eigenständige Krankheit oder ökonomische Herausforderung?
Das dritte Europäische Symposium zum gesellschaftlichen Einfluss von Schmerz («Social Impact of Pain», SIP 2012) findet vom 29. bis 31. Mai 2012 in Kopenhagen, Dänemark, statt. Während der dänischen EU-Ratspräsidentschaft werden mehr als 300 Beteiligte aus ganz Europa erwartet. Das Ziel: Sensibilisierung für die gesellschaftlichen Auswirkungen von Schmerz, Austausch über nationale politische Programme der Schmerz-Behandlung und
die internationale Implementierung des im zweiten SIP-Symposium 2011 in Brüssel entstandenen Aktionsplans für die Verbesserung der Schmerzbehandlung in Europa, der «Road Map for Action».
Weitere Informationen zum SIP unter www.sip-platform.eu.
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