Transkript
FORUM
Integrierte Versorgung
Keine hohen (Aare-)Wellen in Bern
EMIL DREYER
Ich bin zwar Netzpräsident, aber wie die allermeisten meiner Kollegen kein heissblütiger Verfechter der aus ökonomischen Überlegungen heraus geborenen neuen integrierten Versorgung. Wir lassen diese Entwicklung als mögliche Zukunftsvariante aber gelten und machen deshalb mit, weil wir überzeugt sind, durch Mitgestalten und Mitreden am Puls der Zeit zu bleiben und das Steuer in der Hand zu halten. Als Praktiker haben wir ja zeitlebens nichts anderes als integrierte Versorgung gelebt, indem jeder von uns sich stets weitergebildet hat (offizielle Qualität), jeder eine volle Praxis mit zufriedenen Patienten hat (reelle Qualität) und jeder sein eigenes Überweisungsnetz mit Spezialisten und Spital hat (privates Netzwerk). Heute haben uns die modernen Netzwerke einander etwas näher gebracht. Die Kontakte sind über den Zirkel des Notfalldienstkreises hinaus intensiver
durch Qualitätszirkel, durch Zusammenschluss in einem Verein, durch vermehrte Berücksichtigung der Spezialisten in unserem Netz bei Überweisungen (etwas Spezielles in unserem Netz), durch zunehmend finanzielle und auch standespolitische Mitverantwortung innerhalb unseres Netzes. Noch sind wir in unserem relativ jungen Netz politisch nicht so weit, dass wir die nächsten Schritte des MC-Gedankens jetzt schon machen könnten, nämlich die kontrollierte und implementierte Vereinheitlichung der ärztlichen Arbeit in unserem Netz zwecks Kostenoptimierung oder Ressourcenschonung, das heisst evidenzbasierte Diagnose- und Therapierichtlinien, aber auch praktisch-administrative Optimierungen wie Medikamenteneinkauf, überhaupt gemeinsame Ressourcennutzung, dann auch politisch geschlossener gemeinsamer Auftritt. Letztlich soll der Arzt mit diesem Korsett in seiner beruflichen Existenz besser gestützt sein, allerdings zum Preis seiner Anpassung an und Unterordnung unter das Diktat des Ärztenetzwerks.
Anpassung Anpassung ist das halbe Leben (es gibt ja die Diagnose der «Anpassungsstörung»), es fragt sich nur, ob man sein Diktat selber mitgestalten oder es sich von Aussenstehenden aufoktroyieren lassen will. Sofern man überzeugt ist, dass die neue MC-Philosophie die Gesundheitspolitik bestimmen wird, ist man besser beraten, mitzugestalten, als einfach abzuwarten, das heisst in einem Netzwerk mitzuwirken, statt wie bis anhin isoliert zu verharren. Die aktuelle politische Lage mit noch unentschiedener Gesundheitspolitik lässt uns Gemässigten oder uns Unentschlossenen eine Verschnaufpause. Wohl auch deshalb zählen wir uns im Netz Bantiger (noch?) nicht zu den Speerspitzen des MC-Gedankens.
Idealisierte Medizin versus knappes Geld Unsere Generation (ich bin 60) hat eine unabhängige Art der Medizin gelernt, nach dem Motto: Wir entscheiden nach bestem Wissen und Gewissen, bemühen uns, eine State-of-the-Art-Medizin und Good Practice zu verfolgen, haben ethische und moralische Prinzipien, sollten sozial und liberal im Wesen sein – und die Kasse bezahlt. Tja, letzterer Punkt ist der berühmt-berüchtigte Pferdefuss in dieser idealisierten Medizin. Schöngeist versus Geld. Dieses knappe Geld gilt es möglichst effizient = sparsam
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ARS MEDICI 10 ■ 2012
FORUM
auszugeben, und das versprechen sich die Politiker von der integrierten Versorgung. Wir Grundversorger versprechen uns eine berufspolitische Aufwertung, konkret geht es um mehr Macht bei Tarifverhandlungen. Die Enttäuschung beim Tarmed ist nicht vergessen. Als 60-Jähriger nach mehr als 30 Jahren Berufserfahrung habe ich natürlich eine verklärte, weniger stürmische, auf finanziell besserem Polster basierende und teilweise auch resignierte Sichtweise auf den MC-Zeitgeist, ohne überheblich sein zu wollen. Der Jugend gehört die Zukunft, und es sind daher die jungen Kollegen, die entscheiden werden, ob integrierte Versorgung zum Standard wird oder nicht.
Medikamentenabgabe und Notfalldienst Prinzipiell sind wir alle für die direkte Medikamentenabgabe (DMA), aber wir haben mit dem Versandsystem (mehrheitlich über die Apotheke Zur Rose) einen Kompromiss zwischen unserem Wunsch nach DMA und dem bernischen Gesetzgeber gefunden, der in der Agglomeration Bern, das heisst dem Einzugsgebiet unseres Netzes, nur die beschränkte Dispensation duldet, also Erst- und Notfallabgabe. Unsere Patienten schätzen die Versandmöglichkeit überaus. In unserem Netz ist die DMA zurzeit kein Thema.
Im Raum Bern musste der Notfallarzt während seines Dienstes durchschnittlich etwa einmal pro Dienst ausrücken (Studie Dr. Beat Gafner im Auftrag der Bekag). Während vor 10 oder 20 Jahren der Notfalldienst (NFD) ziemlich stressig war (mehrmaliges Ausrücken auch nachts), so sucht in den letzten Jahren die Bevölkerung immer mehr direkt die vielen Notfallpforten und Walk-in-Kliniken auf. Unsere Dienste wurden deshalb deutlich angenehmer, auch wenn die Präsenzzeit blieb. Unser Netz konnte vor zwei Jahren den NFD an den City-Notfall, eine von der Bekag, dem Inselspital und der Sonnenhofklinik finanzierte Walk-inKlinik im Stadtzentrum, delegieren, was abrupt zum praktischen Sistieren unseres Ausrückens im NFD führte, wir leisteten nur noch Hintergrunddienst. Vor einem Jahr verlangte der City-Notfall zur Verlängerung seines Angebots viel Geld, weshalb wir uns nach einer anderen Lösung umsahen. Glücklicherweise bot uns das Tiefenauspital der Stadt Bern an, unseren NFD kostenlos zu übernehmen, sofern wir Hintergrunddienst für jene Fälle leisten, die nicht transportfähig sind. Dies funktioniert ausgezeichnet, die Notrufe werden von unserem Triagezentrum direkt ans Tiefenauspital weitergeleitet, weshalb wir nur noch selten ausrücken müssen, und fast nie mehr nachts. So
leisten wir alle im Netz (ausser einigen Spezialisten, die eine Abgabe zahlen) 23 Tage im Jahr Hintergrunddienst, wobei die aktuelle Lösung mit dem Tiefenauspital unisono als ideal betrachtet wird. Zudem haben wir die Möglichkeit, uns vom NFD freizukaufen, diese Option wird allerdings nur wenig beansprucht.
Gutes kollegiales Verhältnis In den Ferien klappt die gegenseitige Vertretung sehr gut, wir haben glücklicherweise ein gutes kollegiales Verhältnis und keinen Futterneid. Die Knappheit an Grundversorgern bewirkt ja, dass wir alle mehr als genug Patientinnen und Patienten haben. Der Zusammenschluss im Verein Bantiger wirkt sich zudem positiv auf die Kollegialität und die Bereitschaft aus, sich gegenseitig zu vertreten. Hier gibt es bei uns keine Probleme.
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Dr. med. Emil Dreyer Präsident Ärztenetz Bantiger Bern
Erstveröffentlichung in «ARGOMED/DEFACTO» 1/12.