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Editorial
Kaum hat der globale Seuchenzug der Schweinegrippe die Schweiz erfasst, da ebbt die epidemische Welle schon merklich ab. Vor allem aber hat sich das neue Influenzavirus als weitgehend harmlos erwiesen, während die saisonale Grippe alljährlich Todesopfer in nennenswerter Zahl fordert. Diese frohe Botschaft stellt die Impfexperten zugleich vor ein Problem. Sie erwarten eine zweite Grippewelle in einigen Wochen oder Monaten, weshalb sie nachdrücklich zur Impfung gegen das H1N1-Influenzavirus aufrufen. Aller Voraussicht nach werden im Oktober in der Schweiz zwei Impfstoffe dafür bereitstehen. Allein das ohnehin
unterschiedliche Auffassungen darüber, ob und wer über den Kreis der Risikopersonen hinaus geimpft werden soll. Richtig ist, dass sich über die Wirksamkeit und Sicherheit der neuen Impfstoffe derzeit keine abschliessenden Aussagen treffen lassen. Das liegt
Diagnose: Impfmüdigkeit
zu Impfmüdigkeit neigende Volk scheint derzeit, vertraut man den Umfragen, wenig geneigt, die Lektionen der Impfexperten lernen zu wollen und vom Impfangebot Gebrauch zu machen. Die Menschen verfolgen den gutartigen Verlauf der Epidemie in den Nachrichten, befolgen womöglich die ausgegebenen Hygieneregeln und fühlen sich ansonsten nicht sonderlich bedroht. Böse Zungen behaupten gar, es handle sich bei der geplanten Impfaktion eher um ein Konjunkturprogramm für die Pharmaindustrie. Ein realistisches Bedrohungsszenario können die Experten momentan nicht mit zuverlässigen Daten ausmalen. Im Grunde weiss niemand vorherzusagen, wie die weitere Entwicklung weltweit und hierzulande aussehen wird. Gewinnt das H1N1-Virus im Laufe der Zeit an Aggressivität, verdrängt es das saisonale Influenzavirus oder kombinieren sich die Viren? Mit der Impfempfehlung wollen Experten und Politiker auf Nummer sicher gehen und ihrer Fürsorgepflicht nachkommen. Das ist verständlich. Allerdings bestehen trotz offizieller Impfempfehlungen durchaus
in der Natur der Sache: Seltene Nebenwirkungen etwa lassen sich in einem Zulassungsverfahren mit vergleichsweise geringer Probandenzahl und kurzer Erprobungszeit nicht aufdecken. So gesehen handelte es sich bei einem massenhaften Einsatz der neuen Vakzinen tatsächlich um einen Grossversuch an der Bevölkerung. Der Basler Impfexperte Professor Ulrich Heininger bestreitet in einem Interview mit ARS MEDICI das bestehende Restrisiko nicht, hält es aber für sehr gering (Seite 770). Seine zuversichtliche Einschätzung gründet vor allem in den positiven Erfahrungen mit den bisherigen Influenzaimpfstoffen. Mit einer Einschränkung: Bei Schwangeren, für die die EKIF eine ausdrückliche Impfempfehlung abgegeben hat, sind die hierzulande favorisierten adjuvantierten Impfstoffe noch nicht erprobt. In den USA setzen die Gesundheitsbehörden deshalb dem Vernehmen nach auf konventionelle Pandemievakzine ohne Wirkverstärker. Offenbar ist man bei uns weniger furchtsam.
Uwe Beise
ARS MEDICI 19 ■ 2009 761