Transkript
FORTBILDUNG
Hirnschlag
Der Patient mit Atherosklerose (2)
In einer Serie diskutieren Schweizer Experten praxisnah die Probleme um das Management
Merksätze
von Risikopatienten mit atherothrombotischen
Ereignissen anhand von typischen Fallbeispielen.
HEINRICH MATTLE
Fallbericht und Beurteilung
Anamnese und Befunde bei Spitaleintritt Ein 52-jähriger Mechaniker erlitt an einem Herbstsonntag 2005 eine linksseitige Beinschwäche. Er hoffte auf Besserung und nahm Aspirin. Erst am folgenden Tag suchte er ärztliche Hilfe im nahe gelegenen Regionalspital, nachdem die Lähmung wieder aufgetreten war und nun auch den linken Arm umfasste. Bei Aufnahme ins Regionalspital wies er eine rein motorische fazio-brachio-krurale Halbseitenlähmung links auf. Er konnte Arm und Bein mit etwas Mühe von der Unterlage heben, die Hand war jedoch funktionsunfähig und es bestand auch eine durch die Lähmung verursachte proportionale Ataxie des linken Arms und Beins. Die Gesichtslähmung war leichtgradig, jedoch eindeutig erkennbar. Ein Schädel-CT am Tag nach Spitaleintritt zeigte einen normalen Befund. Die Lähmung besserte sich in den folgenden drei Tagen. Mit einem Body-Mass-Index von 28,3 war der Patient übergewichtig, die Serumlipide waren erhöht (Gesamtcholesterin 7,2 mmol/l, LDL-Cholesterin 5,3 mmol/l), und mit Blutdruckwerten systolisch um 170 bis 190 mmHg und diastolisch 105 bis 120 mmHg sowie Zeichen einer linksventrikulären Hypertrophie im EKG, war ein vorbestehender und nicht nur situationsbedingter Bluthochdruck anzunehmen. Zusätzlich bestand eine diabetogene Stoffwechsellage.
Initiale Beurteilung Es bestand eine rein motorische und armbetonte Hemisymptomatik links bei einem Mann mit multiplen vaskulären Risikofaktoren. Die klinische Symptomatik war typisch für einen lakunären Hirninfarkt. Lakunäre Syndrome als Ausdruck einer zerebralen Ischämie wurden 1965 von C. Miller-Fisher erstmals beschrieben. Typischerweise umfassen sie rein motorische, rein
■ Lakunäre Hirninfarkte umfassen typischerweise rein motorische, rein sensible oder ataktische Hemisyndrome oder eine Ungeschicklichkeit einer Hand kombiniert mit einer Dysarthrie.
■ Pathologisch-anatomisch liegt ihnen eine Mikroangiopathie zugrunde, meistens als Folge einer langjährigen arteriellen Hypertonie oder eines Diabetes mellitus oder von beidem.
■ Bilaterale Verschlüsse der Vertebralarterien sind sehr selten und sehr gefährlich. Ätiologisch umfasst die Differenzialdiagnose vor allem die schwere Arteriosklerose, eine Riesenzellenarteriitis und Dissektionen der Vertebralarterien.
■ Clopidogrel ist gemäss Resultaten der CAPRIE-Studie etwas wirksamer als Aspirin zur Vermeidung von Atherothrombosen. Eine Kombination der beiden Substanzen bringt jedoch dem zerebrovaskulären Patienten keinen Vorteil gegenüber Clopidogrel allein.
■ Massnahmen zur Prophylaxe weiterer Infarkte und zur Stabilisierung der Arteriosklerose umfassen einerseits bei den meisten Patienten ein körperliches Bewegungstraining und eine Anpassung der Ernährung und andererseits Medikamente wie Antithrombotika, Lipidsenker und Antihypertensiva.
sensible oder ataktische Hemisyndrome oder eine Ungeschicklichkeit einer Hand kombiniert mit einer Dysarthrie. Auch Hemichorea, Hemiballismus und eine ganze Reihe von Hirnstammsymptomen und Syndromen kommen bei lakunären Infarkten vor. Klinisch lässt ein lakunäres Syndrom oft keinen Rückschluss auf den Ort der Läsion zu. Bei unserem Patienten mit rein motorischer armbetonter Halbseitensymptomatik konnte eine Funktionsstörung in den motorischen Bahnen oberhalb des Fazialiskerns postuliert werden. Da jedoch weitere Symptome fehlten, war eine genauere Lokalisation (z.B. Kortex
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HIRNSCHLAG
rialinfarkte. Allerdings weisen viele Patienten leichte kognitive Funktionsstörungen auf, und mehr als fünf Jahre später sind wesentlich mehr Patienten alltagsrelevant kognitiv eingeschränkt oder dement verglichen mit Überlebenden nach Territorialinfarkten.
Verlauf
In den ersten Tagen im Regionalspital günstiger
Verlauf mit Aspirin. Dies und der neu entdeckte
und aufgrund der linksventrikulären Hyperto-
nie vermutlich langjährige Bluthochdruck und
das Fehlen von Läsionen im Schädel-CT liess
einen unkomplizierten lakunären Infarkt ver-
muten. Nun trat jedoch eine proximalbetonte
Armschwäche rechts hinzu. Die bilaterale
Symptomatik liess den Assistenzarzt des Re-
gionalspitals an eine Hirnstammpathologie
denken. Sie gab Anlass zur Verlegung ins
Inselspital. Bei der klinisch-neurologischen
Untersuchung in der Notfallstation hatte sich
die Schulterlähmung bereits wieder zurückge-
bildet. Eine Kernspintomografie bestätigte einen
lakunären Infarkt im Hirnschenkel mit Aus-
dehnung zur Brücke rechts (Abbildung 1). Das
bei der gleichen Untersuchung angefertigte
Abbildung 1 (links): Lakunärer Infarkt im Pedunculus cerebri rechts (oben Spin-Echo-Bild, unten diffusionsgewichtetes Bild).
kontrastmittelverstärkte Magnetresonanz (MR)Angiogramm stellte normale Arterienabgänge
vom Aortenbogen dar, und die Karotiden
Abbildung 2: Kontrastmittelverstärktes Magnetresonanz-Angiogramm. Die Karotiden
waren bis nach intrakraniell normal. Die Verte-
sind vom Aortenbogen bis nach intrakraniell normal. Die Vertebralarterien kommen
bralarterien kamen jedoch nur bis zu ihrem
jedoch nur bis zu ihrem Eintritt nach intrakraniell zur Darstellung und erschöpfen sich Eintritt nach intrakraniell zur Darstellung und
in der Arteria cerebelli inferior posterior beidseits. Die Arteria basilaris nimmt lang-
erschöpften sich in der Arteria cerebelli inferior
streckig kein Kontrastmittel auf und ist demzufolge hochgradig und langstreckig ste-
posterior (PICA) beidseits. Es waren deshalb
nosiert oder verschlossen. (Die MR-Bilder wurden freundlicherweise von Prof. Gerhard beidseitige Vertrebralarterienverschlüsse –
Schroth, Neuroradiologie, Inselspital Bern, überlassen.)
oder hochgradige Stenosen – im intrakraniel-
len Segment als Ursache des lakunären Hirn-
rechts, Capsula interna rechts, Pedunculus cerebri rechts) nicht stamminfarkts anzunehmen, also eine Makroangiopathie statt
möglich. Das Schädel-CT half auch nicht weiter. Da lakunäre In- der intitial vermuteten Mikroangiopathie. Die Arteria basilaris
farkte in der Regel klein sind – definitionsgemäss nicht grösser nahm langstreckig kein Kontrastmittel auf und war demzufolge
als 4 ml – sind singuläre Lakunen im Akutstadium des Infarkts hochgradig und langstreckig stenosiert oder verschlossen.
computertomografisch oft nicht sichtbar. Meistens sind sie je-
doch mit einer Leukoenzephalopathie oder Leukoaraiose ver- Neue Beurteilung
gesellschaftet, sichtbar als fleckige oder flächenhafte Hypoden- Bilaterale Verschlüsse der Vertebralarterien sind sehr selten und
sität des Marklagers beider Hemisphären, in der Regel mit einer sehr gefährlich. Aufgrund der wenigen in der Literatur publi-
Betonung in der Nähe der Vorder- und Hinterhörner der Seiten- zierten Patientenserien, die meist nur ein Dutzend Patienten
ventrikel. Den lakunären Infarkten liegt pathologisch-anato- umfassten, ist mit einer ernsthaften Prognose und einer hohen
misch eine Mikroangiopathie in Form einer Lipohyalinose der Mortalität und Morbidität zu rechnen. Bezüglich Ätiologie
kleinen Arteriolen oder eine Arteriolosklerose zugrunde, meis- stehen in dieser Situation differenzialdiagnostisch drei Krank-
tens als Folge einer langjährigen arteriellen Hypertonie oder heiten im Vordergrund:
eines Diabetes mellitus oder von beidem. Bei singulären Laku- 1. schwere Arteriosklerose
nen ist die Ätiologie mannigfacher und es müssen praktisch alle 2. Riesenzellenarteriitis und
Hirnschlagätiologien in Betracht gezogen und gesucht werden. 3. Dissektionen der Vertebralarterien.
Lakunäre Hirninfarkte haben mit 2 Prozent eine nur geringe Das MR schloss Dissektionen aus, und das Labor zeigte keine
Mortalität und auch klinisch einen besseren Verlauf als Territo- entzündlichen Veränderungen als Hinweise auf eine Arteriitis.
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FORTBILDUNG
Eine kardiologische Abklärung mit transösophagealer Echokardiografie und Langzeit-EKG ergab keine Hinweise auf kardiogene Embolien in das vertebrobasiläre System. Demzufolge war eine fortgeschrittene Arteriosklerose zu postulieren.
Weiterer Verlauf In den folgenden Tagen fluktuierte der Schweregrad der linksseitigen Parese. Man entschloss sich deshalb zur zerebralen Angiografie mit der Fragestellung, ob eine endovaskuläre Dilatation mit oder ohne Stenteinlage in eine Arteria vertebralis oder die Arteria basilaris die hämodynamische Situation verbessern könnte. Dies war leider nicht der Fall.
Medikamentöse Therapie und Prophylaxe Die Behandlung beschränkte sich somit auf medikamentöse Massnahmen und Rehabilitation. Wegen der multiplen vaskulären Risikofaktoren wurde Aspirin durch Clopidogrel (Plavix®) ersetzt. Clopidogrel ist gemäss Resultaten der CAPRIE-Studie etwas wirksamer als Aspirin zur Vermeidung von Atherothrombosen. Eine Kombination der beiden Substanzen bringt jedoch gemäss den MATCH- und CHARISMA-Studien dem zerebrovaskulären Patienten keinen Vorteil gegenüber Clopidogrel allein. Eine Antikoagulation ist verglichen mit einer Thrombozytenfunktionshemmung in der vorliegenden Situation ebenfalls nicht besser wirksam (WASID-Studie). Zusätzlich zu Clopidogrel erhielt der Patient Atorvastatin (Sortis®) 20 mg abends. Die Heart Protection Study (HPS) und Metaanalysen der Statinstudien zeigten, dass Statine wie Simvastatin (Zocor® und Generika), Pravastatin (Selipran®, Mevalotin® und Generika) und Atorvastatin nicht nur Patienten mit kardialen Symptomen, sondern auch zerebrovaskulären Patienten einen Nutzen bringen. Der Effekt bei zerebrovaskulären Patienten besteht darin, dass allgemeine vaskuläre Ereignisse seltener und Rezidivhirninfarkte tendenziell ebenfalls vermindert werden. Als drittes Medikament wurden nach der Akutphase – in der Akutphase des Hirninfarktes darf man den Blutdruck nicht senken oder nur bei extrem hohen Werten – Antihypertensiva eingesetzt, um den Blutdruck allmählich in den normotonen Bereich (Ziel <140/90 mmHg) zu senken. Gemäss aktueller Studienlage ist nicht eindeutig beantwortbar, ob gewisse Antihypertensiva einen zur Blutdrucksenkung zusätzlichen protektiven Effekt haben und damit anderen Substanzen vorzuziehen sind. Aufgrund der heutigen Datenlage (PROGRESS-Studie mit Perindopril [Coversum®], MOSES-Studie mit Eprosartan [Teveten®]) könnte dies der Fall sein. Wir verwenden daher ein Diuretikum kombiniert mit einem ACE-Hemmer oder einem A-II-Blocker und geben andere Substanzen hinzu, wenn die Blutdruckzielwerte nicht erreicht werden. Während intensiven stationären Rehabilitationswochen bildete sich die Parese soweit zurück, dass der Patient wieder über längere Strecken gehen und seinen Arm für Alltagsaktivitäten, nicht aber für feine motorische Tätigkeiten einsetzen konnte. Auch wurde der Patient über den Wert einer regelmässigen Gymnastik und körperlichen Aktivität sowie über den Nutzen einer gesunden Ernährung instruiert. Die diabetische Stoff-
wechsellage normalisierte sich, die Lipidwerte sanken und die Blutdruckwerte waren bei Entlassung systolisch nur noch um 150 mmHg.
Diskussion
Dieses Beispiel eines Patienten mit multiplen Gefässrisikofakto-
ren und einer Makroangiopathie zeigt, dass die Bedeutung der
Hirnschlagsymptome in der Bevölkerung noch zu wenig be-
kannt ist. Wenn sich dieser Patient mit Auftreten der Parese im
Spital gemeldet hätte, wäre ihm wahrscheinlich mit einer
Thrombolyse geholfen worden. Bei Eintritt im Regionalspital
war das Zeitfenster für eine Thrombolyse bereits geschlossen.
Im Weiteren lehrt uns dieser Patient, dass mit einer sorgfältigen
Diagnostik unter Einsatz der heute zur Verfügung stehenden
Technologie die Ursache eines Hirnschlags detailliert ergründet
werden kann. In der vorliegenden Siutation fand sich eine
schwere Makroangiopathie. Oft, aber nicht immer und wie
auch in unserem Beispiel nicht, kann die hämodynamische
Situation mit einem endovaskulären Eingriff verbessert wer-
den. Ist dies nicht der Fall, bleiben die Massnahmen zur Pro-
phylaxe weiterer Infarkte und zur Stabilisierung der Arterio-
sklerose. Diese umfassen einerseits bei den meisten Patienten
ein körperliches Bewegungstraining und eine Anpassung der
Ernährung und andererseits Medikamente wie Antithrombo-
tika, Lipidsenker und Antihypertensiva. Nach Verschreibung
der Medikamente ist es wichtig, den Patienten regelmässig zu
kontrollieren und die Medikamente anzupassen, falls die Ziel-
werte nicht erreicht sind.
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Prof. Dr. med. Heinrich Mattle Facharzt FMH für Neurologie
Stellvertretender Chefarzt Neurologie Leiter Poliklinik
Klinik und Poliklinik für Neurologie Inselspital 3010 Bern
Interessenlage: Diese Serie entsteht auf Anregung und mit freundlicher Unterstützung von Sanofi-Aventis. Der Autor hat in den vergangenen Jahren von mehreren Pharmafirmen Referentenhonorare und Forschungsgelder erhalten und nahm an diversen Advisory Boards teil.
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