Transkript
GESUNDHEITSPOLITIK q POLITIQUE DE LA SANTÉ
Hausärzte auf der roten Liste – auch im Kanton St. Gallen
Im St. Galler Kantonsrat wurde
bereits vor einiger Zeit eine
Interpellation zum Thema
Hausärztemangel eingereicht
(von Kantonsrat Urs Schneider-
Rüthi).
Die Antwort des Regierungs-
rats ist aufschlussreich. Sie
bestätigt die Befürchtungen
und Warnungen vollumfäng-
lich. Im Folgenden der Wort-
laut der regierungsrätlichen
Antwort in leicht gekürzter
Form.
Interpellation In der Schweiz zeichnet sich ein Mangel an Ärztinnen und Ärzten ab. Bereits heute ist es schwierig, vor allem in ländlichen Gebieten, bei einer Praxisaufgabe eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger zu finden. Es gibt verschiedene Gründe und Hinweise, die den künftigen Mangel an Ärztinnen und Ärzten, vor allem den Mangel an Hausärztinnen und Hausärzten, plausibel machen: q Die Einführung des Numerus clausus im
Jahr 1998 führte dazu, dass weniger Studierende die Ausbildung zur Ärztin
beziehungsweise zum Arzt in Angriff nehmen. Der Nachwuchs bei den Ärztinnen und Ärzten ist abnehmend. Vor zehn Jahren gab es 7427 Studentinnen und Studenten der Humanmedizin, im Studienjahr 2003/2004 waren es 7105. q Der Anteil der Frauen bei den Studierenden der Humanmedizin steigt laufend an (1994: 3378, 2004: 3805). Der Frauenanteil beträgt heute 55 Prozent; bei den Studienanfängerinnen und -anfängern gibt es 61 Prozent Frauen. Da Frauen erfahrungsgemäss zu einem hohen Prozentsatz Teilzeitaufgaben übernehmen, resultiert aus dieser Entwicklung ebenfalls eine Abnahme. q Junge Ärztinnen und Ärzte sind heute weniger bereit, die Anforderungen der freien Praxis, insbesonders von ländlichen Praxen der Allgemeinmedizin, zu übernehmen. Als besonders belastend wirkt sich die hohe zeitliche Verfügbarkeit aus. q Vermehrt bleiben Ärztinnen und Ärzte über die Weiterbildung hinaus im Spital tätig. Die Anstellungsbedingungen und Verdienstmöglichkeiten halten dem Vergleich mit der Situation in der freien Praxis stand. q Ärztliche Stellen sind in den Spitälern ausreichend vorhanden. Einzelne Spitäler und Kliniken haben aber teils Mühe, diese Stellen zu besetzen. Der Anteil von ausländischen Spitalärztinnen und -ärzten beträgt rund 30 Prozent. q Die Zahl der erteilten FMH-Facharzttitel für Allgemeinmedizin nimmt kontinuierlich ab. Es werden laufend mehr Fachspezialärztinnen und -ärzte und weniger Hausarztmedizinärztinnen und -ärzte ausgebildet. Von den 737 Ärztinnen und Ärzten, die im Kanton St. Gallen aktuell in freien Praxen tätig sind,
sind 322, das heisst 44 Prozent, Grundversorgerinnen und Grundversorger. Das prozentuale Verhältnis verschiebt sich laufend in Richtung Fachärztinnen und -ärzte.
Die Regierung beantwortet die einzelnen Fragen
1. Eine verlässliche Prognose für die ärztliche Grundversorgung in der Zukunft kann nicht gemacht werden. Aus der allgemeinen Tendenz lässt sich aber ableiten, dass sich der Mangel an Ärztinnen und Ärzten vor allem in der Grundversorgung in ländlichen Gebieten negativ auswirken wird. In den letzten fünf Jahren (1999 bis 2003) haben im Kanton St. Gallen 57 Grundversorgerinnen und -versorger und 156 Fachspezialistinnen und -spezialisten eine Praxisbewilligung erhalten. Im Durchschnitt eines Jahres eröffneten oder übernahmen damit 10 Ärztinnen und Ärzte eine Hausarztpraxis. In den nächsten zehn Jahren werden rund 100 Ärztinnen und Ärzte mit Praxen das Alter 65 erreichen. Im Toggenburg allein sind es sogar 22 von 45 Ärztinnen und Ärzten. Mit Blick auf die einleitend aufgezeigten Tendenzen werden in wenigen Jahren zu wenig Ärztinnen und Ärzte für die Grundversorgung zur Verfügung stehen. Die Situation wird zusätzlich durch die Tatsache verschärft, dass der Bedarf an ärztlichen Leistungen weiter ansteigen wird: Die demografische Entwicklung mit der ständigen Zunahme der älteren Bevölkerung hat mehr Besuche beim Hausarzt zur Folge, und die psychosozialen Problemen werden zunehmend «medikalisiert». Die prognostizierte Abnahme bei den ärztlichen Grundversorgerinnen und -versorgern wird sich auch im Notfalldienst negativ auswirken. Im Notfalldienst werden – sieht man vom
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Hausärzte auf der roten Liste – auch im Kanton St. Gallen
Nachwuchs ab – im Jahr 2015 nur noch 50 Prozent der heutigen Anzahl Grundversorgender tätig sein. Die anderen sind entweder pensioniert oder älter als 60 Jahre. Setzt sich die absehbare Entwicklung der nächsten Jahre unverändert fort und greifen keine Massnahmen, steht der Kanton nicht erst im Jahr 2020 vor einem erheblichen Problem mit der Gesundheitsversorgung. 2. Selber hat die öffentliche Hand keine Möglichkeit, eine Ärztin oder einen Arzt zur Übernahme einer Praxis zu verpflichten. Dagegen kann der Kanton indirekt dem Problem der ärztlichen Unterversorgung entgegenwirken. So können neue Modelle der ärztlichen Praxistätigkeit zugelassen werden, beispielsweise die Führung einer Praxis durch zwei oder mehrere Ärztinnen oder Ärzte in Teilzeit oder durch ein Ärzteehepaar. Diesbezüglich will das Gesundheitsdepartement die Bewilligungspraxis lockern. Eine weitere Möglichkeit besteht im Erarbeiten eines attraktiven WeiterbildungsCurriculums – unter Einbezug von hausarztspezifischen Weiterbildungsplätzen – in Kliniken und Spitälern, mit dem Ziel, junge Ärztinnen und Ärzte in die Hausarztpraxis zu führen. Die mit ähnlicher Zielsetzung arbeitende Koordinationsstelle für Hausarztmedizin (KOHAM) musste im Zug der Sparanstrengungen mit dem Massnahmepaket 2004 ihre Tätigkeit vor kurzem einstellen. Das Gesundheitsdepartement beabsichtigt zudem, in enger Zusammenarbeit mit der kantonalen Ärztegesellschaft einen Massnahmeplan zum Gewinn von zusätzlichen Hausärztinnen und -ärzten zu entwickeln.
Kommentar
Es ist unbestritten, dass die fatale Entwicklung nicht von den Kantonen verursacht wurde und dass die Kantonsregierungen nur sehr beschränkte Handhabe haben, sie anzugehen. Jedoch: In jüngster Vergangenheit haben die Kantonsregierungen mehrfach gezeigt, dass sie, sofern sie gemeinsam auftreten (Beispiel Kantonsreferendum gegen die Steuerreform), die nationale Politik – und vor allem ihre Fehlentwicklungen – durchaus in der gewünschten Richtung beeinflussen können. Auch in den Kantonen Druck aufzubauen, lohnt sich daher. Interpellationen und andere parlamentarische Aktivitäten tragen die Problematik in die bisher ziemlich ahnungslose Öffentlichkeit. Oder zumindest bis zu den national politisierenden Kantonsvertretern (Ständeräten). Es ist zu hoffen, dass sie erkennen, dass die Forderung nach einer qualitativ hochstehenden Hausarztmedizin zwar verlockend tönt, dass es aber nicht Ziel sein kann, eine gut funktionierende Hausaztmedizin durch immer mehr teure, zeitaufwändige und oft nicht sehr praxisbezogene Qualitätskontrollen zu überladen! Alle diese bürokratischen Auflagen bringen dem Patienten nichts. Sie sind vielmehr die Hauptursache für den galoppierenden Attraktivitätsverlust der Hausarztpraxen. Vorschriften und ein stetig sinkendes Einkommen bei immer grösseren Anforderungen zwingen die jungen Ärzte förmlich in die Spezialisierung. Oder ermuntern sie, in den Spitälern zu verbleiben, die wegen der neuerdings überaus arbeitnehmerfreundlichen Arbeitsgesetze ohnehin ihre Stellenpläne aufstocken und immer mehr der raren Ärzte halten müssen. Volkswirtschaftlich gescheit ist eine solche Politik jedenfalls nicht. Danke allen Politikern, wie dem St.Galler Interpellanten, die das begriffen haben!
Richard Altorfer
3. Ganz allgemein geht es darum, die Attraktivität für Hausarztmedizin zu fördern. Diese Förderung sollte bereits während des Medizinstudiums gezielt einsetzen. Durch die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen ist dies ebenfalls möglich. So können ärztliche Netzwerke gefördert werden. Durch eine geänderte Bewilligungspraxis kann der Kanton neue Modelle von gemeinsamer Führung von Hausarztpraxen zulassen. Das Gesundheitsdepartement wird
diesbezüglich eine offenere Bewilligungspraxis anstreben. Schliesslich wird es auch an den kommunalen Behörden liegen, mit gezielten Massnahmen den Entscheid für die Standortwahl oder die Übernahme einer Praxis günstig zu beeinflussen. q
Richard Altorfer.
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