Transkript
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Arthroseschmerz: Paracetamol und seine Mitbewerber
HALID BAS
Paracetamol ist bei Patienten
mit Arthroseschmerzen in
vielen Fällen ein gutes Medi-
kament. Nichtsteroidale Anti-
rheumatika wirken im All-
gemeinen jedoch stärker.
Mehr Fragen als Antworten
ergeben sich bisher aus
Studien, die für hohe Parace-
tamoldosen eine gewisse
gastrointestinale Toxizität
postulieren.
Durch Arthrosen hervorgerufene Schmerzen bedeuten für die Betroffenen viel Leid, für die «Leistungserbringer» im Gesundheitswesen eine grosse therapeutische Herausforderung und für die pharmazeutische Industrie ein äusserst wichtiges Tätigkeitsfeld mit hohen Umsatzzahlen. Zur Schmerzlinderung bei Arthrose kämpfen im Bereich der pharmakologischen Therapie drei Wirkstoffklassen um den Platz an der Sonne: einfache Analgetika, an erster Stelle Paracetamol (Panadol®, Tylenol®, Dafalgan® und viele andere), die klassischen nichtsteroidalen
Antirheumatika (NSAR) sowie die selektiven COX-2-Hemmer (Coxibe). In dieser Dreieckkonstellation wird mit harten Bandagen und mit unterschiedlichen Argumenten gekämpft. Im Zentrum stehen zwei Fragen, die nach der Wirksamkeit und die nach der Verträglichkeit. Die Antworten einschlägiger Studien fallen unterschiedlich aus, was, wie es scheint, auch mit den jeweiligen Auftraggebern zu tun hat. Seitdem die EULAR-Richtlinien Paracetamol in hoher Dosierung von bis zu 4 Gramm pro Tag als First-line-Therapie empfehlen, ist die altbekannte, als sehr gut verträglich geltende Substanz wieder vermehrt ins Blickfeld der klinischen Forschung gerückt.
Wirkt Paracetamol?
So hat eine doppelblinde, randomisierte Multizenterstudie (IPSO-Studie) die analgetische Wirksamkeit von Einzel- und Mehrfachdosen von Paracetamol und des klassischen NSAR Ibuprofen (Brufen® und viele Generika) bei 222 Patienten verglichen (1). 70 Prozent hatten arthrosebedingte Knieschmerzen, der Rest Hüftschmerzen. Zur Schmerzlinderung wurden entweder 1 x 400 mg oder 3 x 400 mg Ibuprofen beziehungsweise 1x1000mg oder 3x 1000mg Paracetamol verabreicht. Die Resultate dieser von der Firma Boot Healthcare France finanzierte Studie, die auch Ibuprofen anbietet, ergaben, dass die Differenz der Schmerzintensität über sechs Stunden nach der ersten Verabreichung in der Ibuprofen-Gruppe signifikant höher war als in der Paracetamol-Gruppe. Über die 14-tägige Beobachtungszeit nahm die Schmerzintensität ab und war in der Ibuprofen-Gruppe signifikant tiefer als in der Paracetamol-Gruppe (p < 0,05). Die Gelenk-
funktion (gemessen am WOMAC-Score) nahm während der zwei Wochen signifikant zu, und das Ergebnis sprach hinsichtlich Steifigkeit, Schmerz und körperlicher Funktion jeweils signifikant zugunsten von Ibuprofen. Nach Darstellung der Autoren waren beide Therapien gleichermassen sicher. Als Schlussfolgerung halten die Autoren fest, dass ihre Studie für die gewählten Dosierungen und die zweiwöchige Behandlungsdauer für Ibuprofen ein besseres Verhältnis von Wirksamkeit zu Verträglichkeit gezeigt habe. Eine etwas andere Einschätzung bietet eine Metaanalyse randomisierter kontrollierter Studien von W. Zhang und Mitarbeitern, die von der britischen Arthritis Research Campaign finanziert wurde (2). Die Studie fand zehn randomisierte kontrollierte Studien an 1712 Patienten mit symptomatischen Arthrosen von Knien, Hüfte oder multiplen Gelenken. Hier ergab sich, dass Paracetamol zur Schmerzlinderung effektiv war (mit einer Effektgrösse von 0,21 [95%-KI 0,02–0,41]). Die Wirkung von NSAR war jedoch grösser (Effektgrösse 0,20 [95%-KI 0,10–0,30]). Die klinische Ansprechrate war unter NSAR im Vergleich zu Paracetamol höher, und die Anzahl der Patienten, die NSAR vorzogen, war mehr als doppelt so hoch als diejenige der Patienten, die Paracetamol vorzogen. NSAR waren jedoch häufiger mit gastrointestinaler Unverträglichkeit assoziiert als Paracetamol. Die Autoren dieser Metaanalyse kommen zum Schluss, dass Paracetamol zur Schmerzlinderung bei Arthrose ein effektiver Wirkstoff ist, zwar sicherer, aber auch weniger wirksam als NSAR. Unter dem Sicherheitsaspekt sei daher Paracetamol als First-line-Therapie einzusetzen, und die NSAR sollten denjenigen Patienten vorbehalten bleiben, die auf Paracetamol nicht ansprechen.
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Wie steht es eigentlich mit der gastrointestinalen Verträglichkeit von Paracetamol?
Schwer wiegende gastrointestinale Ereignisse sind für die klassischen NSAR bei chronischer Einnahme in hoher Dosierung gut dokumentiert, wobei sich die verschiedenen Vertreter dieser Wirkstoffklasse in ihrer Toxizität unterscheiden. Die meisten Studien wurden bei Patienten mit rheumatoider Arthritis durchgeführt, die durch Begleiterkrankungen und Begleitmedikationen zusätzlich belastet sind. Über das Risiko bei geringeren Dosen oder nur intermittierendem Gebrauch ist kaum etwas bekannt.
Niedrige Paracetamol-Dosen James F. Fries und Bonnie Bruce von der Stanford University in Palo Alto haben daher die Prävalenz von schwer wiegenden gastrointestinalen Ereignissen bei Patienten untersucht, die Acetylsalicylsäure, Paracetamol oder Ibuprofen in niedriger Dosierung oder nur gelegentlich einnahmen. Für ihre zum Teil von der Firma Bayer finanzierte Studie stützten sie sich auf 5692 Patienten mit rheumatoider Arthritis und 3124 Patienten mit Arthrose aus zwölf Datenbanken mit über 36 000 Patientenbeobachtungsjahren. Dabei sahen sie, dass schwere gastrointestinale Ereignisse bei tieferen Dosen der Studienmedikamente seltener vorkamen. Unter denjenigen Patienten, die nur eines der Studienmedikamente ohne andere Analgetika oder Steroide einnahmen, verzeichneten sie 1 Ereignis auf 900 Patientenjahre, was in etwa dem epidemiologischen Hintergrund spontan auftretender gastrointestinaler Ereignisse entsprach. Die Rate solcher Ereignisse war unter Paracetamol bei gleichzeitigem Steroidgebrauch höher als für Acetylsalicylsäure oder Ibuprofen in der gleichen Situation (p < 0,05). In Dosierungen, die frei erhältlich sind (OTC), ergaben sich zwischen den drei Wirkstoffen hinsichtlich der gastrointestinalen Toxizität keine Differenzen. Die Autoren kommen zum Schluss, dass Acetylsalicylsäure, Paracetamol und Ibuprofen für die meisten Individuen nur ein kleines Risiko
für schwer wiegende Magen-Darm-Ereignisse bergen. Angesichts der niedrigen Ereignisraten können die drei Analgetika bei niedriger oder intermittierender Dosierung und ohne Begleitmedikation hinsichtlich gastrointestinaler Toxizität weder voneinander noch von spontan auftretenden Ereignissen unterschieden werden.
Hohe Paracetamol-Dosen Luis Alberto García Rodríguez und Sonia Hernández-Díaz haben an einer anderen Datenbank (United Kingdom General Practice Research Database) das Risiko für obere gastrointestinale Blutungen und Perforationen unter Paracetamol und NSAR untersucht (4). Ihre von der Firma Novartis finanzierte Fallkontrollstudie stützt sich auf 2105 Fälle und 11 500 Kontrollen. Bei der Berechnung des relativen Risikos (RR) trugen sie bekannten Risikofaktoren für schwere obere gastrointestinale Ereignisse Rechnung. Im Vergleich zu Nonusern hatten Patienten unter Paracetamol in niedriger Dosierung (d.h. bis zu 2 g/Tag) kein erhöhtes Komplikationsrisiko. Das adjustierte RR bei Dosen über 3 g/Tag betrug jedoch 3,6 (95%-KI 2,6–5,1). Das entsprechende RR für tiefe/ mittlere sowie hohe Dosen von NSAR betrug 2,4 (95%-KI 1,9–3,1) sowie 4,9 (95%-KI 4,1–5,8). Ebenfalls deutlich erhöht war das RR für NSAR mit kurzer (3,1) und langer (4,5) Halbwertszeit sowie für retardierte NSAR (5,4). Hauptbotschaft dieser Studie ist also, dass Paracetamol in höherer Dosierung ein den NSAR vergleichbares Risiko für schwere gastrointestinale Komplikationen birgt. In eine ähnliche Richtung weist auch eine Analyse von Elham Rahme (McGill University, Montreal/CAN) und Mitautoren bei älteren Patienten über 65 Jahre (5). Diese von der Firma Pfizer Inc. unterstützte Kohortenstudie umfasste rund 26 000 Patienten in der NSAR-Kohorte und gut 21 000 Patienten in der Paracetamol-Kohorte. Als Determinanten für den Einsatz von Paracetamol im Vergleich zu demjenigen eines NSAR erwiesen sich – wenig überraschend – kurz zurückliegende Hospitalisation, Antikoagulation, Alter über 85 Jahre, positive Anamnese für vorange-
gangene gastrointestinale Ereignisse, insbesondere mit deshalb notwendiger Hospitalisation. Die nicht adjustierten Raten für Hospitalisation, Ulkus und Dyspepsie waren in der Paracetamol-Kohorte höher als in der NSAR-Kohorte. Unter Paracetamol (im Amerikanischen als Acetaminophen bezeichnet) war das Auftreten gastrointestinaler Ereignisse dosisabhängig.
«Et Tu, Acetaminophen?»
Unter diesem Titel versucht Steven B. Abramson von der New York University School of Medicine in einem Editorial, auf die richtigen Fragen die richtigen Antworten zu finden (6). Zunächst erinnert er daran, dass Paracetamol, seit es 1893 die therapeutische Bühne betrat, weit herum als sicheres und effektives Analgetikum bei leichten bis mittelschweren Schmerzen betrachtet und häufig als First-line-Therapie eingesetzt wird, besonders bei älteren Arthrosepatienten. Dahinter steht die Vorstellung, dass Paracetamol eine den NSAR vergleichbare Wirksamkeit bei weniger Nebenwirkungen und geringeren Kosten bietet. Die Empfehlung zur Initialtherapie mit Paracetamol erfährt nun Widerspruch von zwei Seiten. Einerseits durch die Einführung der Coxibe, die für sich im Vergleich zu klassischen NSAR eine verbesserte gastrointestinale Sicherheit in Anspruch nehmen und daher im Jahr 2000 Aufnahme in die Richtlinien zur Behandlung der Arthrose des American College of Rheumatology fanden. Andererseits durch Behandlungsstudien und retrospektive Erhebungen, die den NSAR eine überlegene Wirksamkeit, besonders bei Patienten mit schweren Symptomen und möglicherweise bei Hüftarthrose, bescheinigen. Allerdings sprechen auch in solchen Behandlungsstudien bei Arthrose viele Teilnehmer (20–40%) auf Paracetamol gleich gut oder besser an. Mit Blick auf die Kosten lässt sich daher ein initialer Therapieversuch mit Paracetamol durchaus rechtfertigen – vorausgesetzt, dass das im Vergleich zu NSAR postulierte bessere Sicherheitsprofil zutrifft. Und hier provoziert die Studie von Rahme
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und Mitarbeitern: Patienten, die höhere Paracetamol-Dosen (> 2600 mg/Tag) einnahmen, hatten höhere gastrointestinale Komplikationsraten als bei tieferer Dosis. Bei Berücksichtigung einer «gastrointestinalen Risikoempfänglichkeit» hatten Patienten unter hohen Paracetamol-Dosen sogar ähnliche Raten gastrointestinaler Ereignisse wie Patienten unter hohen NSARDosen. Die Studie weist damit in dieselbe Richtung wie jene von Luis Alberto García Rodríguez und Sonia Hernández-Díaz, was eine Neubeurteilung von Paracetamol rechtfertigt. Allerdings seien die Ergebnisse der Studie von Rahme sorgfältig zu lesen, bevor man akademische oder kommerzielle Debatten führt, fordert Steven B. Abramson. Für die erhöhte gastrointestinale Toxizität unter hohen Paracetamol-Dosen waren nämlich überwiegend dyspeptische Symptome, und nicht etwa Ulzera, Ulkuskomplikationen oder Hospitalisationen, verantwortlich. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Patienten mit erkennbar erhöhtem gastrointestinalem Komplikationsrisiko bevorzugt mit Paracetamol behandelt wurden. Dem sollte die statistische Korrektur («Risikoempfänglichkeit») Rechnung tragen. Ob dies zweifelsfrei gelang, muss offen bleiben. Daneben wurden weitere Confounding-Faktoren (z.B. HelicobacterStatus, Tabak- und Alkoholanamnese, Komedikation mit frei erhältlichen NSAR etc.) nicht erfasst. Der genaue Wirkmechanismus von Paracetamol ist bisher nicht klar. Allerdings ist seit längerem bekannt, dass der Wirkstoff ein schwacher COX-Hemmer ist. Allerdings ist diese Fähigkeit zur Cyclooxygenase-Hemmung, offenbar parallel zum Ausmass der Hydroperoxid-Produktion der Zellen, je nach untersuchtem Gewebe überaus variabel. Bisher ist jedoch eine COX-1-Hemmung in der Magenschleimhaut selbst unter hohen ParacetamolDosen nicht dokumentiert.
Merk-
sätze
q In einer Behandlungsstudie war Ibuprofen bei Knie- und Hüftarthrose Paracetamol (bis 3 x 1 g/Tag) überlegen.
q Eine Metaanalyse kommt hingegen zum Schluss, dass Paracetamol zur Schmerzlinderung bei Arthrose ein effektiver Wirkstoff ist, zwar sicherer, aber auch weniger wirksam als NSAR. Unter dem Sicherheitsaspekt sei daher Paracetamol als First-line-Therapie einzusetzen, und die NSAR sollten denjenigen Patienten vorbehalten bleiben, die auf Paracetamol nicht ansprechen.
q Eine retrospektive Datenauswertung fand, dass Acetylsalicylsäure, Paracetamol und Ibuprofen niedrig oder intermittierend dosiert, für die meisten Individuen nur ein kleines Risiko für schwer wiegende MagenDarm-Ereignisse bergen.
q Zwei retrospektive Auswertungen von Datenbanken ergaben für Paracetamol in hoher Dosierung eine erhöhte gastrointestinale Toxizität. Diese scheint aber höchstens dyspeptische Symptome, nicht schwer wiegende Komplikationen zu betreffen.
Abschliessend kommt Abramson zur
Einschätzung, dass das Gewicht der klini-
schen Erfahrung bis zum schlüssigen
Beweis des Gegenteils weiterhin das
überlegene gastrointestinale Gesamtsicher-
heitsprofil von Paracetamol im Vergleich
zu nichtselektiven NSAR stützt.
q
Quellen: 1 F. Boureau (Centre d’évaluation et de traitement de la douleur, Saint-Antoine Hospital, Paris) et al.: The IPSO study: ibuprofen, paracetamol study in osteoarthritis. A randomised comparative clinical study comparing the efficacy and safety of ibuprofen and paracetamol analgesic treatment of osteoarthritis of the knee and hip. Ann. Rheum. Dis. 2004; 63: 1028–1034. 2. W. Zhang (Academic Rheumatology, University of Nottingham, Nottingham/UK): Does paracetamol (acetaminophen) reduce the pain of osteoarthritis?: a metaanalysis of randomised controlled trials. Ann. Rheum. Dis. 2004; 63: 901–907. 3. James F. Fries, Bonnie Bruce (Department of Medicine, Stanford University, Palo Alto/USA): Rates of serious gastrointestinal events from low dose use of acetylsalicylic acid, acetaminophen, and ibuprofen in patients with osteoarthritis and rheumatoid arthritis. J. Rheumatol. 2003; 30: 2226–2233. 4. Luis Alberto García Rodríguez (Centro Español de Investigación Farmacoepidemiológica, Madrid), Sonia HernándezDíaz: Relative risk of upper gastrointestinal complications among users of acetaminophen and nonsteroidal antiinflammatory drugs. Epidemiology 2001; 12: 570–576. 5. Elham Rahme (McGill University, Montreal/CAN) et al.: Determinants and sequelae associated with utilization of acetaminophen versus traditional nonsteroidal antiinflammatory drugs in an elderly population. Arthritis & Rheumatism 2002; 46: 3046–3054. 6. Steven B. Abramson (New York University School of Medicine, New York): Et Tu, Acetaminophen? (Editorial). Arthritis & Rheumatism 2002; 46: 2831–2834.
Halid Bas
Interessenlage: Die finanziellen Quellen sind im Text bei den einzelnen Studien angegeben.
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