Transkript
FORTBILDUNG q FORMATION CONTINUE
Schlechte Blutzuckerkontrolle wegen Lipohypertrophie
Eine Folge unsachgemässer Insulinjektionen
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Zwei Fallberichte erinnern an
eine Ursache für schlechte
Blutzuckerwerte und Hypo-
glykämien bei mit Insulin
behandelten Zuckerkranken.
Die Lipohypertrophie ist eine benigne «tumorartige» Schwellung des Fettgewebes, die durch subkutane Insulininjektionen verursacht werden kann. Diese Gewebeveränderung führt zu Resorptionsstörungen und kann Ursache einer sich verschlechternden Kontrolle des Blutzuckers (BZ) sein.
Fall 1 Bei dieser 37-jährigen Frau war seit dem 7. Lebensjahr ein Typ-1-Diabetes bekannt. Sie wurde im Jahr 2000 an ein Diabeteszentrum überwiesen, weil sie trotz gut eingehaltener Diät und regelmässiger BZSelbstkontrolle fluktuierende BZ-Spiegel, rezidivierende Hyperglykämien und häufige, nicht vorhersehbare Hypoglykämien hatte. Bei der letzten Jahreskontrolle zeigte sie eine leichte Retinopathie ohne andere mikro- oder makrovaskuläre Komplikationen. Die Lipid-, Harnstoff- und Elektrolytwerte sowie Schilddrüsenfunktionstests waren normal. Ihr glykosiliertes Hämoglobin war jedoch mit 9,1 Prozent eindeutig zu hoch (Normbereich 3,6– 5,1%). Sie erhielt humanes Actrapid® (Tagesgesamtdosis 30 E) und humanes Insulatard® (26 E zur Nacht), die sie mit einem Pen spritzte. Ausserdem wurde sie
zu einer spezialisierten Diabetesschwester überwiesen. Dieser fielen fluktuierende BZ-Spiegel und häufige Hypoglykämieepisoden (3- bis 4-mal pro Woche) auf. Sie liess sich von der Patientin die Injektionstechnik vorführen und bemerkte dabei eine beträchtliche Lipohypertrophie an den Injektionsorten in der Bauchdecke. Sie empfahl der Patientin, diese Injektionsstellen in Zukunft zu vermeiden und die Insulindosis um 10 Prozent zu reduzieren. Über die nächsten sechs Monate verbesserte sich die BZ-Kontrolle, und die Häufigkeit der Hypoglykämieepisoden sank auf weniger als eine pro Monat. Trotz der reduzierten Insulindosis fiel ihr glykosiliertes Hämoglobin innert dreier Monate auf 6,8 Prozent.
Fall 2 Diese 56-jährige Frau wurde wegen schlechter Diabeteskontrolle überwiesen. Bei ihr war vor zehn Jahren ein Typ-2-Diabetes diagnostiziert worden. Wegen sekundären Versagens der oralen Therapie war sie vor vier Jahren auf Insulin umgestellt worden, als ihr glykosiliertes Hämoglobin 9,5 Prozent betrug. Sie erreichte mit zwei Injektionen von humanem Mixtard® 30 (Tagesdosis 64 E) innert sechs Monaten eine akzeptable BZ-Kontrolle (HbA1c 6,4%). Bei der letzten Jahresvisite fiel jedoch eine Verschlechterung der Glykämiekontrolle auf, und die Behandlung wurde zu humanem Actrapid® und Insulatard® mit einer täglichen Gesamtdosis von 52 E geändert. Trotz guter Diätcompliance, regelmässiger BZ-Selbstkontrolle und Anpassung der Insulindosis hatte sie immer noch erratische BZ-Konzentrationen und ein HbA1c von 8,9 Prozent. Die übrigen Untersuchungsergebnisse waren hingegen normal. Auch hier fiel der spezialisierten Diabetesschwester eine schwere
Merk-
sätze
q Wird Insulin häufig in dieselbe Stelle gespritzt, kann sich eine lokale Lipohypertrophie entwickeln.
q Die insulininduzierte Lipohypertrophie führt zu unregelmässiger Insulinresorption mit erratischen Blutzuckerwerten und Hypoglykämien.
q Wichtigste vorbeugende Massnahme und Therapie bei bestehender Lipohypertrophie ist der Rat, die Injektionsstellen sorgfältig zu rotieren.
Lipohypertrophie an den Injektionsorten auf. Sie empfahl der Patientin, diese Stellen zu meiden, die Injektionsorte regelmässig zu wechseln sowie die Insulindosis um 10 Prozent zu reduzieren. Innert dreier Monate fiel das HbA1c auf 6,7 Prozent, ihre BZ-Werte besserten sich trotz der geringeren Insulindosis, und Hypoglykämien blieben aus.
Diskussion Diabetische Lipodystrophien, insbesondere Lipoatrophie, waren unter bovinen und porcinen Insulinen häufig anzutreffen. Mit den rekombinanten humanen Insulinen sind Lipoatrophien selten geworden, Lipohypertrophien bleiben jedoch ein Ernst zu nehmendes Problem, schreiben die Autoren. Die Prävalenz einer klinisch signifikanten Lipohypertrophie wird bei Typ-1-Diabetes auf 20 bis 30 Prozent,
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Schlechte Blutzuckerkontrolle wegen Lipohypertrophie
bei Typ-2-Diabetes auf etwa 4 Prozent geschätzt. Die Veränderung scheint auf einer zellulären Antwort der Adipozyten auf die lokalen Effekte des injizierten Insulins zu beruhen. Die Empfänglichkeit für diese Komplikation variiert jedoch stark, weshalb auch immunologische Faktoren anzunehmen sind. In diese Richtung weist die Beobachtung, dass das Ausmass der Lipohypertrophie bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes direkt mit den Titern von Insulin-Antikörpern korreliert. Andere vermutete Risikofaktoren sind häufige Injektionen in dieselbe Stelle, Typ des Insulins, Zahl der täglichen Injektionen, Tagesgesamtdosis, Wiederverwendung von Nadeln und Einsatz von Pens anstatt Spritzen. Die Injektion von Insulin in lipohypertrophe Areale kann die Resorption signifikant verzögern und zu erratischen BZ-Werten sowie Hypoglykämien führen. Lipohypertrophe Hautstellen können ästhetisch störend
sein. Einzige Behandlung ist dann die Liposuktion. Allerdings können sich die Veränderungen mit der Zeit auch zurückbilden, wenn weitere Injektionen an dieser Stelle vermieden werden. Bei den jährlichen Kontrollen waren die Patientinnen zwar nach den Injektionsorten gefragt worden, und die klinischen Routineinspektionen hatten nichts Auffälliges ergeben. Erst die gezielte Suche nach den Veränderungen zeigte den Befund, der besser zu palpieren als zu sehen ist. Lipohypertrophien sind oft asymmetrisch, da die dominante Hand bei der Injektion eine Seite bevorzugt. Bei Beginn einer Insulintherapie ist es zwingend, die Patienten auf die Notwendigkeit der Rotation der Injektionsorte aufmerksam zu machen. Sind Lipohypertrophien einmal aufgetreten, darf nicht mehr an diesen Stellen gespritzt werden, und die Injektionsorte müssen sorgfältig gewechselt werden. Damit ist wie in den beschriebenen Fällen eine Verbesserung
der Glykämiekontrolle und des Insulinbe-
darfs zu erzielen. Zusammen mit den
Empfehlungen zur Änderung der Injek-
tionstechnik ist auch die Insulindosis zu
reduzieren, da sonst Hypoglykämiegefahr
wegen besserer Insulinresorption droht.
Ein Wechsel zum rascher wirkenden Insu-
linanalog Insulin lispro (Humalog®) soll
weniger Lipohypertrophien verursachen,
da die Adipozyten so weniger lang den
lipogenen Wirkungen des Insulins aus-
gesetzt sind.
q
Tahseen A. Chowdhury, Valerie Escudier (Mile End Diabetes Centre, Royal London Hospital, London/UK): Poor glycaemic control caused by insulin induced lipohypertrophy. Brit. med. J. 2003; 327: 383–384.
Halid Bas
Interessenlage: Die Autoren deklarieren keine Interessenkonflikte.
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