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Das metabolische Syndrom
Bedeutung der kardiovaskulären Risikokonstellation
POSTGRADUATE MEDICINE
Das metabolische Syndrom
bezeichnet eine Konstellation
aus kardiovaskulären Risiko-
faktoren, die mit einer Insu-
linresistenz verknüpft sind.
Mit Diagnose und Therapie
beschäftigen sich zwei
Beiträge in «Postgraduate
Medicine».
Die Diagnose eines metabolischen Syndroms kann gestellt werden, wenn gemäss National Cholesterol Education Program (NCEP) drei der folgenden Kriterien erfüllt sind: q abdominelle Adipositas
(Hüftumfang ≥ 102 cm bei Männern und ≥ 82 cm bei Frauen) q Triglyzeridspiegel ≥150 mg/dl (entspr. ≥ 1,69 mmol/l) q niedrigere HDL-Cholesterinspiegel ≤ 40 mg/dl (≤ 1,03 mmol/l) bei Männern und ≤ 50 mg/dl (≤ 1,29 mmol/l) bei Frauen q Bluthochdruck ≥ 135/85 mmHg oder antihypertensive Therapie q Nüchternblutglukose ≥ 110 mg/dl.
«Wenn wir bei unseren Patienten das metabolische Syndrom bedenken, können wir mehr kardiovaskuläre Hochrisikopatienten identifizieren», meint der Autor
Gregory Doelle. Er stellt in Aussicht, dass bald noch weitere Risikofaktoren Einzug in die Richtlinien halten werden, etwa das hochsensitive C-reaktive Protein. In seinem Beitrag stellt Doelle die verschiedenen Komponenten des metabolischen Syndroms vor.
Adipositas
ist ein Hauptrisikofaktor für Typ-2-Diabetes und für kardiovaskuläre Erkrankungen. Fettleibigkeit gehört zum metabolischen Syndrom, obwohl nicht alle betroffenen Patienten tatsächlich eine Insulinresistenz aufweisen. Für die metabolischen Konsequenzen ist einzig das viszerale Fett ausschlaggebend, weil es als initiales Moment in der Entwicklung einer Insulinresistenz gilt. Die Behandlung des Übergewichts sieht der Autor in erster Linie in Diät und Bewegung. Daneben kämen im Einzelfall zusätzlich auch Appetitzügler in Betracht, obwohl der gewichtsreduzierende Effekt etwa von Sibutramin (Reductil®) und Orlistat (Xenical®) mit 5 bis maximal 10 Prozent keine ganz grossen Sprünge erlaube. Gewisse Hoffnungen setzt Doelle wie offenbar viele andere Experten in den Cannaboid-Rezeptorantagonisten Rimonabant (ARS MEDICI 21/2004), der aber noch nicht auf dem Markt erhältlich ist.
Dyslipidämie Die kombinierte Hyperlipidämie gilt als Grundpfeiler des metabolischen Syndroms. Die Konstellation besteht aus Hypertriglyzeridämie, tiefen HDL-Cholesterinspiegeln und oft normalem LDL-Cholesterin, wobei die LDL-Partikel bei den Patienten oft kleiner und dichter sind. Ob diese Besonderheit eine klinische Bedeutung hat, weiss man noch nicht. Die Diagnose einer Hyperlipidämie kann
Merk-
sätze
q Das metabolische Syndrom ist eine Kombination aus gestörtem Glukose- und Lipidstoffwechsel, Übergewicht und abdomineller Fettansammlung, Dyslipidämie und Hypertonie.
q Bewegung, Diät und Gewichtsabnahme sind entscheidende therapeutische Massnahmen. Mit solchen Lifestyle-Veränderungen lässt sich die Insulinresistenz verringern und das Fortschreiten zum Typ-2-Diabetes bremsen.
nur gestellt werden, wenn der Patient nicht akut krank ist. Während das HDLCholesterin kaum von der aktuellen Nahrungsaufnahme beeinflusst wird, ist das bei Triglyzeriden anders. Zuverlässig lassen sie sich nur bestimmen, wenn der Patient zwölf Stunden zuvor nicht gegessen hat, also nüchtern zur Blutabnahme kommt. Der Autor weist darauf hin, dass auch bestimmte Erkrankungen niedrige HDL-Spiegel hervorrufen können, wie etwa ein Hypothyreoidismus. Die Behandlung der Dyslipidämie ist ebenfalls primär nicht pharmakologisch, die Ansatzpunkte sind Gewichtsreduktion, Bewegung und fettarme Ernährung. Auch Statine sind wirksam. Die ATP-III-Guidelines empfehlen sie, wenn LDL-Senkung das primäre Ziel ist und die Patienten Triglyzeridlevel unter 500 mg/dl (5,65 mmol/l) aufweisen. «Das metabolische Syndrom ist ein Äquivalent zur KHK», meint der Autor. Deshalb wird das Ziel ausgegeben, das LDL-
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Das metabolische Syndrom
Cholesterin unter 100 mg/dl (2,59 mmol/l) zu senken. Das erfordert in der Praxis fast immer ein Statin. Allerdings werden mit Statinen Triglyzeride und HDL-Cholesterin in der Regel nicht normalisiert. Um dies zu erreichen, hat man im Rahmen des Coronary Drug Project und des Veterans Affairs High-Density Lipopotein Cholesterol Intervention Trial (VAHIT) Niacin (in der Schweiz nicht im Handel) respektive Gemfibrocil (Gevilon®) eingesetzt. Das Nikotinsäurederivat und das Fibrat konnten dabei, so der Autor, die gewünschten Lipidveränderungen bewirken und führten zu einer Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse. Vorsicht ist allerdings bei der Kombination aus Fibrat und Statin geboten, weil das Myositisrisiko erhöht ist. Es sollten Kreatinkinasespiegel bestimmt werden, wenn sich eine Myalgie entwickelt.
Hypertonie
Der Bluthochdruck ist oft kombiniert mit Fettleibigkeit. Gewichtsabnahme senkt auch den Blutdruck – ein Zusammenhang, der, wie der Autor schreibt, «die Überlappung der individuellen Komponenten des metabolischen Syndroms zeigt». Wie allerdings Insulinresistenz und Hochdruck zusammenhängen, ist bislang ein Rätsel geblieben. Insulin wirkt als direkter Vasodilatator, wenn es als Kurzinfusion verabreicht wird; es erhöht aber andererseits die renale Natriumrückresorption und aktiviert den Sympathikus, wodurch sich unter dem Strich doch eine Blutdruckerhöhung als Folge denken liesse. Auch in der Hochdrucktherapie steht an erster Stelle die nichtpharmakologische Therapie, also Salzrestriktion, kalorienarme Diät und Bewegung. Allerdings ist eine medikamentöse Therapie letztlich doch fast immer erforderlich, will man die Blutdruckziele erreichen. Der Autor empfiehlt bei Hypertonikern mit metabolischem Syndrom in erster Linie Betablocker und Diuretika und schliesst sich damit der Auffassung an, dass diese Substanzen, anders als zunächst befürchtet, keine relevanten negativen metabolischen Auswirkungen haben.
Gestörte Glukosetoleranz
Erhöhte Nüchtern-Blutglukose gehört zum metabolischen Syndrom, ist aber ebenso wenig wie der manifeste Diabetes mellitus ein absolut notwendiges Kriterium. Eine eingeschränkte Glukosetoleranz gilt als ein Intermediärstadium im Fortgang vom metabolischen Syndrom zum Typ-2-Diabetes. Sie ist für sich bereits mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko behaftet. Die Messung der Blutglukose ist bei allen Patienten mit mutmasslichem oder gesichertem metabolischen Syndrom erforderlich, meint Doelle. Demgegenüber werden nach den NCEPRichtlinien die Nüchtern-Insulinspiegel bislang nicht empfohlen. Allerdings, heisst es in einer assoziierten Arbeit in «Postgraduate Medicine», korrelieren Plasmainsulinkonzentrationen eng mit dem Blutdruck bei adipösen und nicht adipösen Patienten. Normotensive Kinder von hochdruckkranken Eltern sind häufiger insulinresistent als Kinder von normotensiven Eltern. Die Insulinresistenz ist eine wesentliche Ursache für eine verschlechterte Glukoseintoleranz und die Entwicklung eines Typ2-Diabetes. Ob Insulinresistenz eine primäre Ursache des metabolischen Syndroms ist, ist nach Meinung des Autors William Sivitz nicht sicher. Die Frage, wann genau tatsächlich eine Insulinresistenz vorliegt, ist ebenso wenig klar. Früher, berichtet der Autor, sprach man davon, wenn ein Patient 100 Einheiten Insulin brauchte, um seinen Glukosespiegel unter Kontrolle zu bringen. Heute postuliert man die Insulinresistenz, wenn eine unnormal grosse Insulinmenge für eine normale biologische Reaktion erforderlich ist. Die klinische Diagnose, räumt der Autor ein, bleibt mit einer solchen Definition etwas unsicher und bis zu einem gewissen Grad subjektiv. In bestimmten Situationen ist allerdings eine Insulinresistenz klinisch sehr wahrscheinlich, sodass sich Tests ohnehin zu erübrigen scheinen, zum Beispiel bei adipösen Patienten mit tiefem HDL-Cholesterin. Insulinresistenz ist oft bei dicken Menschen vorhanden, die noch eine normale Blutglukose aufweisen. Bei ihnen sind die
Sekretionsraten basal und im Anschluss an die Mahlzeiten zweifach höher als bei schlanken Menschen. Tatsächlich lehrt die Erfahrung, dass Insulinkonzentrationen sehr hoch sind, wenn sich einTyp-2-Diabetes bereits ausgebildet hat. Eine Insulinresistenz kann übrigens auch vorhanden sein bei Menschen, die nicht dick sind und keinen Diabetes haben, die aber andere Komponenten eines metabolischen Syndroms aufweisen. Auch bei gestörter Glukosetoleranz stehen Lifestyle-Veränderungen therapeutisch an erster Stelle, allerdings könnten auch Insulinsensitizer in Betracht gezogen, wenn die Massnahmen fehlschlagen, meint der Autor.
Polyzystisches Ovarsyndrom (POS)
Das POS ist charakterisiert durch Anovula-
tion, irreguläre Menstruation, Infertilität
und Androgenüberschuss, der zu Akne und
Hirsutismus führt. Das POS gehört zwar
nicht zum metabolischen Syndrom, ist
aber ebenfalls mit einer erhöhten Insulin-
resistenz verknüpft und einem erhöhten
Risiko für Typ-2-Diabetes und kardiovas-
kulären Erkrankungen. Im Alter von etwa
40 Jahren hat fast jede zweite Frau eine
anormale Glukosetolereanz, wie Untersu-
chungen ergeben haben. Eine Therapie-
studie mit Metformin (z.B. Glucophage® )
hat gezeigt, dass fast jede zweite Frau un-
ter Monotherapie eine Ovulation erzielt,
verglichen mit 24 Prozent unter Plazebo.
Allerdings werden noch bessere Ergeb-
nisse durch Lifestyle-Veränderungen er-
zielt, meint Doelle.
q
Uwe Beise
Gregory C. Doelle: The clinical picture of metabolic syndrome. An update of this complex of conditions and risk factors. Postgraduate Medicine 2004; 116: 3038. William I. Sivitz: Understanding insulin resistance. What are the clinical implications? Postgraduate Medicine 2004; 116: 41–48.
Interessenlage: Die Autoren deklarieren keine Interessenkonflikte.
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