Transkript
FORTBILDUNG ● FORMATION CONTINUE
Reizdarm und Lebensqualität
ARCHIVES OF INTERNAL MEDICINE
Die Beeinträchtigung der
körperlichen und psychischen
Lebensqualität von Patienten
mit Reizdarmsyndrom lässt
sich durch eine bemerkens-
wert kurze Liste von Faktoren
gut abschätzen.
Richtlinien empfehlen, bei Patientinnen und Patienten mit Reizdarmsyndrom routinemässig auch die gesundheitsbezogene Lebensqualität (health-related quality of life, HRQL) zu erfassen. In der Praxis wird dies jedoch kaum oft in systematisierter Form geschehen, da dazu schlicht die Zeit fehlt. Gastroenterologen verschiedener Institutionen in Los Angeles haben nun versucht, Determinanten der gesundheitsbezogenen Lebensqualität bei Reizdarmpatienten zu bestimmen.
Methodik Sie untersuchten 770 Patienten ab 18 Jahren, die an einem universitären Überweisungszentrum wegen Reizdarmsyndrom nach den Rom-I- oder Rom-II-Kriterien gesehen wurden. Die Teilnehmenden hatten zwei umfangreiche Fragebögen auszufüllen (Symptoms Checklist–90 items psychometric checklist sowie 36-Item ShortForm health Survey [SF-36]). Wichtigster Parameter der Auswertung war die globale Lebensqualität gemessen am SF-36, einem gebräuchlichen, validierten Mess-
instrument, das die Auswirkungen chronischer Erkrankungen gut erfasst. Die Forschungsgruppe definierte ausserdem aufgrund bisheriger Forschungen und Symptomerfassungen eine Reihe von hypothetischen Prädiktoren für die körperliche und psychische Lebensqualität und prüfte deren unabhängige Assoziation mit der Lebensqualität in einer multivariaten Regressionsanalyse.
Resultate Sieben Faktoren (p2 = 0,39) konnten unabhängig die körperliche gesundheitsbezogene Lebensqualität vorhersagen: ● mehr als 5 Arztbesuche pro Jahr ● leichte Ermüdbarkeit ● Energiemangel ● schwere Symptome ● überwiegend schmerzhafte Symptome ● Gefühl, dass «etwas ernsthaft mit
meinem Körper nicht stimmt» ● Symptomexazerbationen für mehr als
24 Stunden Acht Faktoren (p2 = 0,36) konnten unabhängig die psychische gesundheitsbezogene Lebensqualität vorhersagen: ● Anspannungsgefühl ● Nervosität ● Hoffnungslosigkeit ● Schlafstörungen ● leichte Ermüdbarkeit ● geringes sexuelles Interesse ● Interferenz der Reizdarmsymptome mit
der Sexualfunktion ● Energiemangel Der Beitrag der einzelnen Prädiktoren an die Minderung der Lebensqualität fiel unterschiedlich aus. So hatten Patienten, die sich als leicht ermüdbar bezeichneten, eine um 9 Prozent tiefere gesundheitsbezogene Lebensqualität als solche, die sich als nicht leicht ermüdbar deklarierten. Da die Faktoren additiv sind, hatten etwa
Merk-
satz
● In der Begegnung mit Reizdarmpatienten sollten nicht die physiologischen Epiphänomene (Stuhlfrequenz, Stuhlcharakteristika, Subtyp des Reizdarmsyndroms) und potenziell irreleitende klinische Faktoren (Alter, Krankheitsdauer) im Zentrum stehen, sondern die Aufmerksamkeit sollte der globalen Symptomschwere, dem Ansprechen von Angst und der Erfassung und Ausschaltung von Faktoren gelten, die zur vitalen Erschöpfung beitragen.
Patienten, die von leichter Ermüdbarkeit und Symptomexazerbationen von mehr als 24 Stunden berichteten, eine um 12,7 Prozent tiefere Lebensqualität als solche, für die beide Charakteristika nicht zutrafen.
Diskussion Da es keinen konsistenten biologischen Marker für das Reizdarmsyndrom gibt, erfolgt die Diagnose auf Basis der Symptomatik. Dies bedeutet aber auch, wie die Autoren pointiert bemerken, dass die subjektive Einschätzung ihres Gesundheitszustands durch die Patienten nicht nur ihre Krankheit beschreibt, sondern auch als Mass bei der Abschätzung von Therapieerfolgen dient. Klinische Erfahrungen zeigen überdies, dass zwischen der Einschätzung des Arztes und derjenigen der Patienten bei Reizdarmsyndrom grosse Unterschiede bestehen, die sich leicht in
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suboptimalen Behandlungsverläufen niederschlagen können. Wie ihre Analyse zeige, lasse sich ein grosser Anteil der Variation bei der gesundheitsbezogenen Lebensqualität von Reizdarmpatienten durch eine sehr kurze Liste von Variablen charakterisieren. So sei die körperliche Lebensqualität assoziiert mit Symptomschweregrad, Symptomperiodizität und Schmerz, während die psychische Lebensqualität vor allem mit Störungen der Sexualität und Stimmung sowie mit Angst zusammenhänge. Beiden Bereichen der Lebensqualität sei eine enge Assoziation mit Zeichen für chronischen Stress und vitale Erschöpfung (leichte Ermüdbarkeit, Energiemangel, geringes sexuelles Interesse und Schlafstörungen) gemeinsam. Im Gegensatz dazu, so die Autoren, seien beide Bereiche der Lebensqualität jedoch nicht durch spezifische gastrointestinale Symptome wie Diarrhö, Obstipation, Blähungen oder Dyspepsie determiniert und ebenso wenig durch das Ausmass der vorgängigen Abklärungen wie Sigmoidoskopie oder Koloskopie oder durch irgendwelche demografischen Charakteristika wie Geschlecht, Alter oder Zivilstand.
Die Assoziation von mentaler und körperlicher Lebensqualität mit den Symptomen einer vitalen Erschöpfung fügt sich nach den Ausführungen der Autoren gut in heutige Konzepte zur Beschreibung des Reizdarmsyndroms ein. Während Gesunde, die mit akutem Stress konfrontiert sind, durch zeitlich gut koordinierte physiologische Adaptationsmechanismen eine Homöostase erhalten können, zeigen Patienten mit Reizdarmsyndrom im Krankheitsverlauf veränderte Stressantworten und eine inadäquate physiologische Adaptation. Die chronische Stresssystemaktivierung führt bei ihnen zu überschiessenden autonomen, neuroendokrinen und Schmerzmodulationsantworten, die ihrerseits zu langfristigen Veränderungen der Darmfunktion und zu Störungen der viszeralen Wahrnehmuung führen. Als Botschaft an die Praxis lesen die Autoren aus ihren Forschungsergebnissen heraus, dass in der Begegnung mit Reizdarmpatienten nicht die, wie sie schreiben, physiologischen Epiphänomene (Stuhlfrequenz, Stuhlcharakteristika, Subtyp des Reizdarmsyndroms) und potenziell irreleitende klinische Faktoren (Alter, Krankheitsdauer) im Zentrum stehen sollten, sondern
die Aufmerksamkeit der globalen Symptomschwere, dem Ansprechen von Angst und der Erfassung und Ausschaltung von Faktoren gelten sollten, die zur vitalen Erschöpfung beitragen. Hierzu bietet sich das Training von Bewältigungsmechanismen und Entspannungstechniken an. Ziel muss es auch sein, ein besseres Gefühl für die Selbstwirksamkeit zu entwickeln, Änderungen des Lebensstils zu fördern (Diät, körperliche Bewegung, Rauchverzicht) sowie die eigenen Grenzen zu erkennen. ●
Brennan M.R. Spiegel (Division of Gastroenterology, the VA Greater Los Angeles Healthcare System, Los Angeles/USA) et al.: Clinical determinants of health-related quality of life in patients with irritable bowel syndrome. Arch. Intern. Med. 2004; 164: 1773–1780.
Halid Bas
Interessenlage: Die Autoren deklarieren keine finanziellen Interessen.
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