Transkript
ENICUM
Notfall-Doc
Heute habe ich wieder «Emergency Room» erlebt. Live und real. Menschliche Tragödien. Spannung. Hektik. Und ich, der Doc? Mitten drin. Auch nur ein Mensch. Aber ein souveräner. Der EntertainmentWert hielt sich zwar in Grenzen – zumindest für mich. Und leider verdient und sieht Clooney besser aus als ich. Nur gut, dass wir mit Anna und Karl gestern Nacht bis Null Uhr Rioja «ge-winetastet» haben. Drum hatte ich noch nicht geschlafen, als mein Schwiegervater um eins aus dem Bett fiel und den Tele-Alarm drückte. Nach einer Stunde Einschlafversuchen polterte unser halbwüchsiger Sohn von der HipHop-Fête heim. Und übergab sich. Um drei fiel (wörtlich zu nehmen) der zweite verkiffte Nachtbube ins traute Heim ein. Die Ehefrau neben mir gab ein Schnarch-Crescendo. Bis vier. Nachbars Hund schlug um fünf an. Sein Herrchen fuhr eine halbe Stunde später mit jaulendem Motor los. So war ich dann gar nicht verschlafen, als der Wecker um sechs läutete. Die MPA meldete sich um sieben ab: ihr Baby sei krank. Wieder einmal wünschte ich mir eine Ordensfrau als MPA, wobei eine zölibatäre, workoholische Vollwaise ohne Freundeskreis und Hobbies auch reicht. Mein Ford hatte einen totalen Break-down. Nach einem ÖV- und Jogging-Parcours kam ich in der Praxis an. Drei Notfallpatienten standen schon vor der Tür. Erstversorgt werden wollte aber zuerst meine andere MPA. Von Migräne, Menstruation und Midlifecrisis geschüttelt. Nun, ich bin ein Profi. Ein gelassener Gutmensch. Flexibel. Speditiv. Verströmte gute Laune und Kompetenz. Teilte gemäss Eisenhower-Schema ein: Die wichtigen und dringlichen Sachen zuerst. Der adipöse, asthmatische Grossindustrielle Ende fünfzig mit starkem Thoraxschmerz und Dyspnoe. Dann das Wichtige, aber nicht Dringliche: Das E-Mail
des Rektors, der den Rauswurf meines Ältesten aus dem Gym androhte und mich ultimativ zur unverzüglichen Rückantwort aufforderte. Das Dringliche, aber nicht allzu Wichtige: Mich noch für den Kongress anzumelden. Und die Mehrzahl der Patientenprobleme an diesem Tag. Zum Schluss: Meine Frau (Liebling, bitte verzeih mir, dass ich dich an diesem Tag ins unwichtige, nicht dringliche Viertel eingeteilt habe!). Sie hatte der MPA am Telefon irgendwas über «ungebetene Besucher» berichtet. Bat um Rückruf. Nun ja, ständig überfallen uns Gäste. Dank Berner Wurzeln bin ich die Ruhe in Person. Kann gut delegieren. Triagieren. Auch mal Nein sagen. Mehrere Sachen gleichzeitig erledigen. Meine Agenda enthält Pufferzonen für Unvorhergesehenes. Die Kommunikation mit meinen langjährigen Mitarbeiterinnen? Perfekt. Meine PatienInnen? Lieben mich. Weil ich seit Jahren exzellenten Service biete. So auch heute: Mit stählernen Nerven redete ich freundlich mit der jungen Hyperventilatorin. Liess sie Beutel atmen. Nähte die RQW des gestürzten Skaters so schön wie ein TV-Chirurg. (Seine stark blutende Galea beschmutzte den neuen Teppich im Wartezimmer arg). Arbeitete mich effizient durch die überfüllten Pufferzonen. Sah die regulären Kontrollpatienten: Bleiche Antikoagulierte mit ausgedehnten Ekchymosen und Hyphaemas. Und die Diabetiker, die heute alle eiternde Fussentzündungen und entgleiste Glukose-Werte hatten. Doch Werte erschreckten uns bald nicht mehr, da unsere Labormaschine den Geist aufgab. Statt PatientInnen mit kalter TechnoLabormedizin abzuzocken, war ich warmherzig. Machte klassische klinische Medizin. Inspektion, Auskultation, Perkussion, Palpation. Half den Rettungssanitätern, als vor meiner Praxis eine Greisin angefahren wurde. Scherzte kurz am Telefon mit dem
Orthopäden in Plauderstimmung, zu dem ich das Meitli mit Grünholzfraktur geschickt hatte. Vergass das Administrative nicht und tarmedikalisierte meinen PC. Kurz vor sechs rief der Grossindustrielle an. Lästerte über seine Einweisung in die Poliklinik. Der Kardiologe habe sein «rheumatisches Rippenweh» mit einem Ponstan kuriert. Jener Kollege – der auch der notfalldiensthabende OA des Spitals war – stauchte mich deshalb auch noch selbst fernmündlich zusammen. Und nicht nur deshalb. Mit der Ambulanz, so geiferte er, hätte ich ihm eine gesunde Alte geschickt. Aber eine Mantel-Pneumothoraxpatientin als Hyperventilatorin verkannt. Entgleiste Diabetiker und blutende Antikoagulierte nicht behandelt. Wortkarg faxte dann der Orthopäde, dass bei der Kleinen keine Fraktur vorläge. Ihre Mutter kam in die Praxis zurück und beschwerte sich lauthals: Über meine Fehldiagnostik, über die Hektik und den schmutzig-blutigen Teppich im Wartezimmer. Die noch wartenden Notfallpatienten nickten grimmig zustimmend. Hörbar fluchend verliess in dem Moment die MPA verfrüht die Praxis, weil ich lauter falsche Tarmed-Positionen eingegeben und den PC ruiniert hätte. Der Schulrektor mailte. Er käme nicht mit meinem Mail klar, in dem ich mich zum Kongress angemeldet und der Hoffnung Ausdruck gegeben hätte, dass ich noch in den Genuss des Eintrittsgebührenrabatts für Frühanmelder käme. Das Kongresssekretariat rief an und fragte, was ich mit meinem Mail an sie über «miese Pädagogik und braven Sohn» sagen wolle. Und meine Frau kam persönlich vorbei. Stinksauer. Nach ihrer Nachricht vom Einbruch in unser Haus hätte ich den ganzen Tag nicht reagiert. Hilfe! Ruft einen Arzt! Jetzt bin ich ein Notfall!
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