Transkript
STUDIEq ÉTUDE
Helfen Statine bei Multipler Sklerose?
Die erste offene Studie gibt Anlass zu vorsichtiger Hoffnung, doch entscheidende Fragen bleiben offen
LANCET
Manches spricht dafür, dass
Statine womöglich bei Mul-
tipler Sklerose helfen können.
Kürzlich ist nun die erste ein-
schlägige klinische Studie im
«Lancet» publiziert worden.
Die Autoren sehen Grund zu
verhaltenem Optimismus,
entscheidende Fragen lässt
die Untersuchung aber
unbeantwortet.
Der natürliche Verlauf der Multiplen Sklerose lässt sich bislang medikamentös nur sehr begrenzt beeinflussen. Daran hat die Einführung der Betainterferone im Prinzip nicht so viel geändert. Zwar sind diesen Immunmodulatoren gewisse Teilerfolge nicht abzusprechen, doch als grossen Durchbruch kann man die Betainterferontherapie nicht bezeichnen. Zudem handelt es sich um teure Medikamente. Patienten, Ärzte und Forscher sind deshalb sehr an neuen Therapieansätzen interessiert. Mit den Statinen könnte eine solche Alternative womöglich bereitstehen – und dies nicht etwa wegen ihrer lipidsenkenden Effekte. Statine wirken, wie man erst recht spät entdeckt hat, immunmodulatorisch, was man sich bei der MS
zu Nutze machen könnte. Sie interferieren beispielsweise mit Entzündungsmediatoren im Zentralnervensystem, womöglich hemmen sie die Akkumulation von Leukozyten und lösen einen «Shift» von einem proinflammatorischen zu einem antiinflammatorischen Zytokinprofil aus. Zudem hemmen Statine die T-Zell-Proliferation dosisabhängig; andererseits haben sie, wie experimentelle Untersuchungen zeigen, auch gewisse proinflammatorische Eigenschaften. Da Statine zumeist sehr gut verträglich sind, die Risiken einer Therapie für MS-Patienten deshalb überschaubar gering erscheinen, starteten amerikanische Kliniker im Jahr 2001 einen kontrollierten Therapieversuch im Rahmen einer offenen Studie. An verschiedenen US-amerikanischen Zentren rekrutierte man insgesamt 30 MS-Patienten mit schubförmig verlaufender MS. Sie mussten im MRI mindestens eine (aktive) Läsion aufweisen, in den zurückliegenden drei Monaten durften sie keine immunmodulatorische Therapie mit Interferon oder Glatirameracetat erhalten haben. Anschliessend an eine dreimonatige Screening-Phase erhielten die Teilnehmer sechs Monate lang Simvastatin (Zocor®) in einer Tagesdosis von 80 mg; MRI-Untersuchungen fanden im vierten, fünften und sechsten Behandlungsmonat statt. Als primäre Studienendpunkte waren Zahl und Grösse von MRI-Läsionen definiert, als sekundäre die Schubrate und die körperliche Beeinträchtigung nach der EDSS (Expanded Disability Status Scale). Die Ergebnisse sind nun im «Lancet» veröffentlicht worden. Bei der Auswertung der MRI-Befunde zeigte sich, dass die Zahl der Läsionen und ihre Grösse im Vergleich zum Vorbehandlungszeitraum deutlich abnahm. Allerdings fanden die Forscher keine Veränderungen des Zytokinprofils,
Merk-
sätze
q Statine haben neben den lipidsenkenden unter anderem auch immunmodulatorische Eigenschaften. Forscher hoffen, die entzündungshemmenden Effekte bei MS-Patienten nutzen zu können.
q In der hier vorgestellten Studie erhielten 30 Patienten mit schubförmiger MS Simvastatin über 6 Monate. Verglichen mit der Zeit vor Therapiebeginn sank die Zahl und Grösse der im MRI festgestellten Läsionen unter der Behandlung.
q In der Studie wurde aber keine Kontrollgruppe mitgeführt, weshalb offen bleibt, ob die positiven MRI-Befunde tatsächlich auf die Therapie zurückgehen.
q Immunologische Parameter veränderten sich durch die Statintherapie nicht.
auch liessen bestimmte Oberflächenmarker auf Leukozyten den Einfluss einer Therapie nicht erkennen. Klinisch liess sich ebenfalls kein sichtbarer Einfluss auf den Kranheitsverlauf ausmachen, was bei der kurzen Beobachtungszeit auch nicht zu erhoffen war. Nach Auffassung der Autoren sollten die Ergebnisse dennoch Anlass sein, mit einer grossen randomisierten Studie zu beginnen. Inzwischen hat der Neurologe Scott Zamvil von der University of California in San Francisco eine entsprechende interna-
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Helfen Statine bei Multipler Sklerose?
tionale Multizenterstudie geplant. Probleme scheint es aber zum Teil noch mit der Finanzierung zu geben. Die «Lancet»-Kommentatoren Chris H. Polman und Joep Killestein aus Amsterdam haben die Industrie aufgefordert, sich dem nicht zu verweigern.
Vorsichtige Hoffnung
Die vorliegenden Resultate gäben Anlass zu «vorsichtiger Hoffnung». Andererseits warnen sie vor vorschnellen Interpretationen. Angesichts des offenen Studiendesigns und der geringen Patientenzahl liessen sich derzeit keine zuverlässigen Aussagen machen. Die Neurologen geben vor allem zu bedenken, dass unklar sei, ob möglicherweise Patienten mit aktiver Erkrankung selektiert wurden und deshalb
nicht mit Gewissheit ausgeschlossen werden könne, dass die nachlassende MRIAktivität lediglich den natürlichen Heilungsverlauf zum Ausdruck bringe. Die Tatsache, dass offenbar die immunmodulatorischen Effekte, auf die der Statin-Einsatz gründet, nicht messbar gewesen sei, könne auch mit einer zu geringen StatinDosis zusammenhängen, meinen sie und fordern in den anstehenden Studien auch Dosierungsfragen zu beantworten. Zur Diskussion stehen zudem die allfälligen Nutzen und Risiken einer Kombinationstherapie. Unterdessen haben vorsichtige Wissenschaftler, wie etwa der Neuroimmunologe Reinhard Hohlfeld von der Ludwig-Maximilians-Universität München Patienten abgeraten, bereits heute eigenmächtig ein Statin mit MS-Medikamenten zu kombinieren. Zumindest in Grossbri-
tannien ist dies seit dem 1. Juli ohne weiteres möglich, da Statine dort aus der Rezeptpflicht genommen wurden, also wie Aspirin frei verkäuflich sind.
Timothy Vollmer et al.: Oral simvastatin
treatment in relapsing-remitting multiple
sclerosis. Lancet 2004; 363: 1607.
Statins for the treatment of multiple scle-
rosis: cautious hope. Lancet 2004; 363:
1570.
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Uwe Beise
Interessenlage: Die Studie wurde durch einen unrestricted educational grant von Merck unterstützt. Die Firma hatte keinen Einfluss auf Studiendesign, Datenanalyse und Interpretation der Studie.
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