Transkript
FORTBILDUNG q FORMATION CONTINUE
Management von venösen Beinulzera
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Hauptpfeiler der Behandlung
beim chronischen venösen
Beinulkus ist die adäquate
Kompression. Einiges spricht
auch für eine operative Sanie-
rung oberflächlicher Varizen.
Die meisten venösen Ulzera der Beine könnten unter Spitalbedingungen mit kontinuierlicher Beinhochlagerung geheilt werden. Dieses einst populäre Vorgehen ist heute aus Ressourcengründen nicht mehr praktikabel. Zudem kommt es nach der Entlassung nach Hause oft zu Rezidiven, da dann der gewohnte Lebensstil – vor allem stundenlanges Herumsitzen mit herabhängenden Beinen – wieder Platz greift. Daher sind heute ambulante Betreuungssysteme, die die Mobilität fördern und die Komplikationen der Bettlägerigkeit vermeiden, als kosteneffektiver und adäquater anzusehen. Ziel der gemeindenahen Betreuung ist es, die Unabhängigkeit und Lebensqualität der Betroffenen zu erhalten, betonen Deborah A. Simon und Mitautoren in ihrer Übersicht im «British Medical Journal».
Ursachen
Die meisten Ulzera sind mit einer Venenerkrankung assoziiert, aber die Palette anderer Ursachen oder beitragender Faktoren ist lang (Tabelle 1). Die Pathophysiologie der venösen Ulzeration ist im Detail
umstritten. Das Management der Erkrankung muss aber die Ursachen der venösen Hypertonie berücksichtigen, die im Endeffekt sowohl zur venösen Insuffizienz wie auch zum Ulkus führen. Dabei haben die meisten Patientinnen und Patienten mit venösen Ulzera keinen anamnestischen Hinweis auf eine tiefe Venenthrombose. Klar ist hingegen die Assoziation mit dem Alter. Jüngere Menschen mit schwerer chronischer venöser Insuffizienz können dank ihrer Mobilität, die die Wadenmuskelpumpe aktiv hält, einem Ulkus entgehen. Im Alter ist hingegen die Kombination der Faktoren Venenerkrankung, Übergewicht und Immobilität häufig, die als Hauptursache einer anhaltenden venösen Hypertonie gilt (Tabelle 2). Die anhaltende venöse Hypertonie führt zum Ödem in den abhängigen Gebieten der unteren Extremität, was die Distanz für den Austausch von Metaboliten zwischen
Merk-
punkte
q Die meisten venösen Beinulzera können ohne Hospitalisation durch adäquate Kompressionsbandagierung behandelt werden.
q Eine konstante Überwachung der Kompressionsverbände ist sehr wichtig.
den kleinsten Gefässen und den Gewebezellen verlängert. Die Gewebe um das Fussgelenk werden während des Stehens oder Herabhängens der Beine ischämisch. Während des Gehens oder bei Hochlagerung erfolgt die Reperfusion. Diese chronische Reperfusionsläsion führt zu Ent-
Tabelle 1: Ursachen von Ulzera der Beine
Vaskulär q venös (80–85% aller Beinulzera)
q arteriell (Atherosklerose, arteriovenöse Missbildung)
q Vaskulitis (systemischer Lupus erythematodes, rheumatoide Arthritis, Sklerodermie, Polyarteriitis nodosa, Wegener-Granulomatose)
q lymphatisch
Neuropathisch q Diabetes mellitus, periphere Neuropathie (gewöhnlich am Fuss)
Hämatologisch q Polycythaemia vera, Sichelzellanämie
Traumatisch q Verbrennungen, Kälteverletzung, Druckulzera, Bestrahlung, artifiziell
Neoplastisch q Basaliom oder Pflasterzellkarzinom, Melanom, M. Bowen
Andere q Sarkoidose, tropisches Ulkus, Pyoderma gangraenosum
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Tabelle 2:
Ursachen für eine anhaltende venöse
Hypertonie
Venenerkrankung q oberflächliche venöse Insuffizienz
(Varicosis)
q tiefe venöse Insuffizienz
q primär
q tiefe venöse Obstruktion (selten)
q Status nach tiefer Venenthrombose
q externe Kompression
Beeinträchtigte Wadenmuskelpumpe q Immobilität
q Gelenkerkrankung
q Lähmung
q Obesitas (Immobilität, Kompression der V. femoralis, hoher intraabdomineller Druck)
Kongestive Herzinsuffizienz
zündungsprozessen, die ihrerseits Ödem, Gewebefibrosierung und Ausbildung einer Manschette extrazellulärer Matrixproteine um die Kapillaren fördern. Dies ruft dann die bekannten Merkmale einer chronischen venösen Insuffizienz wie Schmerzen, schwere Beine, Lipodermatosklerose, Pigmentierung, Schwellung, Ekzem und schliesslich Ulzeration hervor. Die Behandlung zielt auf die Verhütung der anhaltenden venösen Hypertonie und die Verringerung ihrer Auswirkungen durch Kompressionsbandagierung zur Reduktion der venösen Stase und des Gewebeödems.
Diagnose und Abklärung
Am Anfang steht sicher eine ausführliche Anamnese, die nach möglichen Risikofaktoren (kardiovaskuläre Erkrankungen, Gewichtsprobleme, Arthritis, Diabetes) und nach Hinweisen auf eine Beinverletzung oder durchgemachte tiefe Venenthrombose fahnden soll. Als Beinulkus wären hier alle chronischen Ulzera der Unter-
schenkel und Malleolen unter Ausschluss von Läsionen an Vorfuss und Zehen zu definieren. Die Untersuchung muss im Liegen und Stehen erfolgen, um sichtbare Krampfadern zu erkennen. Wichtig ist die Bestimmung des Fuss-Arm-Indexes mit dem Doppler, um eine arterielle Ursache auszuschliessen (bei Index > 0,9). Die Phlebografie ergab nur wenig funktionelle Informationen und ist heute durch die Duplex-Sonografie ersetzt. Die Untersuchung ist indiziert bei rezidivierender oder komplizierter Varikosis, Saphena-parvaInsuffizienz oder Verdacht auf eine tiefe Venenerkrankung. Eine oberflächliche venöse Insuffizienz ist fast immer gegeben und der Hauptgrund für eine venöse Hypertonie bei etwa der Hälfte der Extremitäten mit venösem Ulkus. Die Venenfunktion bei Patienten mit gemischter tiefer und oberflächlicher Erkrankung sollte invasiv abgeklärt werden.
Management des Ulkus
Trotz einigem Forschungsaufwand ist nach Einschätzung der Autoren nur wenig Evidenz für den Nutzen moderner interaktiver Wundverbände publiziert worden. Die Betonung liegt somit eher auf der Patientenschulung, der Ausbildung der Pflegenden und der Weiterentwicklung von Kompressionssystemen. Die Basis für eine effektive Behandlung listet Tabelle 3 auf. Die Autoren halten die Behandlung venöser Beinulzera ausdrücklich für eine Aufgabe gemeindenaher Dienste, ergänzt durch Venen-Sprechstunden, in denen die Abklärungen zugrunde liegender Gefässerkrankungen, von mikrobiologischen, histopathologischen und dermatologischen Aspekten gewährleistet wird. Allerdings beklagen sie auch die fehlende Motivation vieler Patienten, sich gründlicheren Abklärungen und allenfalls Veneneingriffen zu unterziehen.
Behandlung des Ulkus Die zugrunde liegenden Ursachen (Tabelle 2) müssen identifizert werden. Multiple Pathologien sind häufig. Aber auch Zuckerkranke können ein einfaches venö-
Tabelle 3:
Effektive Therapie von venösen Beinulzera
q vierlagige Kompressionsverbände
q Bein hochlagern
q Mobilität verbessern
q Übergewicht reduzieren
q Ernährung verbessern
q Hauttransplantate bei ausgewählten Patienten
q Venenchirurgie bei ausgewählten Patienten
ses Ulkus haben, das nicht schwerer zur Abheilung zu bringen ist als bei nichtdiabetischen Patienten. Da 80 bis 85 Prozent der Ulzera mit einer venösen Hypertonie assoziiert sind, bleibt die Kompression der Grundpfeiler der Therapie. Patienten mit venösen Beinulzera neigen zur Kontaktsensibilisierung, vor allem auf Alkohole, Parabene und Gummigemische, die in Wundverbänden, Salben und Cremen vorkommen. Viele völlig inadäquate Studien, so die Autoren, haben die Rolle der Verbandmaterialien untersucht. Die meisten hätten gezeigt, dass moderne «Designer-Verbände» gegenüber einfachen, wenig klebenden Verbänden unter einer mehrlagigen Kompressionsbandage keinen zusätzlichen Effekt auf die Wundheilung haben. Eine kontinuierliche graduierte Kompression bekämpft die Effekte der venösen Hypertonie durch Verminderung der venösen Stase und Vorbeugung respektive Behandlung des Gewebeödems. Ein Cochrane-Review hat die Kosteneffektivität von Verbänden und Kompressionsstrümpfen untersucht. Die identifizierten 22 Studien zeigten konsistent, dass die Kompression die Abheilung von Ulzera begünstigt. Nach 12 bis 15 Wochen waren unter starker Kompression mehr Ulzera abgeheilt als unter schwächerer Kompression. Zwischen verschiedenen stark komprimierenden Systemen waren keine signifikanten Unterschiede fassbar,
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nach 24 Wochen waren aber mehr mit einem vierlagigen Kompressionsverband behandelte Ulzera abgeheilt als nach einlagiger Kompression. Als effektivster Kompressionsgrad wurden 40 mmHg am Fussgelenk bestimmt. Die korrekte Anwendung der Bandagen ist zur Vermeidung von Druckulzera über knöchernen Partien und der Tibiavorderseite essenziell. Hier kommt der Schulung von Gemeindeschwestern eine sehr hohe Bedeutung zu, am besten unter Supervision durch eine spezialisierte «Venenschwester». Patienten mit abgeheiltem venösem Ulkus tragen ein hohes Rezidivrisiko, zitiert werden Rezidivquoten von 26 Prozent nach einem Jahr und von 31 Prozent nach 18 Monaten. Ein Cochrane-Review fand nur wenige adäquate Studien, zog aber den Schluss, dass Rezidive unter stärkeren Kompressionen seltener sein könnten. Die Hochlagerung des Beins hat in der Spitalbehandlung die Heilung gefördert. Sie wird in jedem Fall das Ödem verringern und die Mikrozirkulation verbessern. Bei schwierigeren Fällen können verschiedene Verfahren der Hauttransplantation zur Anwendung kommen, heute auch unter Verwendung neuer Kunsthautprodukte. Vorerst vor allem interessante Studiengebiete sind die Konzentrationen verschiedener Zytokine in nicht heilenden Ulzera und der Einsatz von Wachstumsfaktoren, der bisher aber nur schlecht dokumentiert ist. Antibiotika haben einen geringen Einfluss auf die Ulkusheilung, sind aber bei klinischer Infektion mit Umgebungszellulitis indiziert. Pentoxifyllin (Dinostral® 400, Pentoxi-Mepha® 400, Trental®) ist in klinischen Studien evaluiert worden. Die grösste plazebokontrollierte, doppelblinde Studie umfasste aber nur 80 Patienten. Dabei waren in der Pentoxifyllingruppe nach einem Jahr 88 Prozent geheilt, in der Plazebogruppe 44 Prozent. Oxerutine (Venoruton®) konnten Ulkusheilung und Rezidivrate hingegen nicht eindeutig beeinflussen. Auch weitere Wirkstoffe wie Stanozolol, Prostaglandin E1, Sulodexid oder Aspirin sind – in meist winzigen Studien – unter-
ESCHAR-Studie: Kombinierte konservative und chirurgische Therapie bei chronischer
venöser Ulzeration wirksamer als alleinige Kompressionsbehandlung
Die Studie wollte die Heilungs- und Rezidivraten bei Patienten mit Beinulzera nach Kompressionsbehandlung mit oder ohne einfache oberflächliche Varizenablation untersuchen. 500 konsekutive Patientinnen und Patienten an drei englischen Zentren wurden mit Farb-Duplex-Darstellung des Venensystems untersucht. Diejenigen mit isoliertem oberflächlichem und mit gemischt oberflächlich und tiefem Reflux wurden entweder zu alleiniger Kompressionsbehandlung (allwöchentlich erneuerter mehrlagiger Kompressionsverband bis zur Abheilung und Klasse-2-Kompressionsstrümpfe unterhalb des Knies danach) oder zur Kombination der Kompressionsbehandlung mit einfacher Venenchirurgie randomisiert. Insgesamt waren die Heilungsraten in beiden Gruppen gleich (65% vs. 65%, Hazard Ratio 0,84, 95%-KI 0,77–1,24, p = 0,85). Nach zwölf Monaten war die Rezidivrate in der kombiniert konservativ und chirurgisch behandelten Gruppe jedoch signifikant tiefer (12% vs. 28%, Hazard -2,76, 95%-KI -1,78–4,27, p < 0,0001). Auch in der Untergruppe mit gemischtem oberflächlichem und segmentalem tiefem Reflux fielen die Rezidivraten bei den zusätzlich Operierten besser aus. Die Studienautoren kommen zum Schluss, dass die chirurgische Korrektur einer oberflächlichen venösen Insuffizienz die Rezidivrate vermindert und daher für die meisten Patienten mit chronischer venöser Ulzeration einen zusätzlichen Nutzen bringt. Um ein Rezidiv nach 12 bis 14 Monaten zu verhindern, müssen 5 bis 6 Patienten neben der Kompression auch mit einem chirurgischen Eingriff behandelt werden.
Jamie R. Barwell (Department of Vascular Surgery, Cheltenham General Hospital, Cheltenham/UK) et al.: Comparison of surgery and compression with compression alone in chronic venous ulceration (ESCHAR study): randomised controlled trial. Lancet 2004; 363: 1854–1859.
sucht worden, aber für die Praxis bedeutungslos geblieben. Für die oberflächliche Venenchirurgie sind bei Patienten mit nur oberflächlicher venöser Insuffizienz Verbesserungen der Ulkusabheilung dokumentiert. In einer nicht randomisierten Studie bei Patienten ohne tiefen Reflux in der Doppleruntersuchung verringerte die Venenchirurgie die Ulkusrezidivrate nach drei Jahren von 44 auf 26 Prozent. Eine randomisierte Studie verglich bei 87 Patienten ein minimal invasives chirurgisches Vorgehen mit alleiniger Kompressionsbehandlung. In der operativ behandelten Gruppe kam es im Mittel nach 31 Tagen zur Ulkusabheilung, in der Gruppe mit alleiniger Kompressionsbehandlung nach 63 Tagen. Auch die Rezidivraten nach drei Jahren sprachen für die Venenchirurgie (9% vs. 38%). Eine vor kurzem publizierte randomisierte, kontrol-
lierte Studie sah eine Reduktion der Rezi-
divrate nach zwölf Monaten (Kasten).
Weniger klar ist die Rolle der Chirurgie bei
gemischt oberflächlicher und tiefer venö-
ser Insuffizienz. Bisher überhaupt nicht
untersucht wurden prophylaktische Ve-
neneingriffe bei Risikopatienten mit ober-
flächlicher Veneninsuffizienz.
q
Deborah A. Simon (Department of Surgery, Wythenshawe Hospital, Manchester/UK) et al.: Management of venous leg ulcers. Brit med J 2004; 328: 1358–1362.
Halid Bas
Interessenkonflikte: keine deklariert
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