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TAGUNGSBERICHT q COMPTE-RENDU DE CONGRÈS
«Und plötzlich hatte ich einen neuen Partner!»
Ein Bericht vom Internationalen Kongress über neuropathische Schmerzen in Madrid
THOMAS FERBER
Neuropathische Schmerzen
unterscheiden sich grundsätz-
lich von entzündungsbeding-
ten Schmerzformen und
müssen daher im pharmakolo-
gischen Bereich anders behan-
delt werden. Über die oft
schwierige Diagnose und die-
oft noch unbefriedigende
Therapie diskutierten Experten
anlässlich eines internatio-
nalen Kongresses in Madrid*.
Chronische Schmerzen stellen laut Troels Jensen, Forschungsprofessor am Departement für Neurologie und am Dänischen Schmerzforschungszentrum der Universität Aarhus, ein bedeutendes volkswirtschaftliches Gesundheitsproblem dar, und neuropathische Schmerzen haben einen bedeutenden Anteil an diesen Schmerzen. Doch die Diagnose sei mitunter schwierig, und bessere Therapien würden dringend
*Neuropathic Pain. Changing Paradigms in Diagnosis and Treatment. An International Congress of NeuPSIG. Madrid, 13.–16. Mai.
benötigt, sagte er anlässlich des Interationalen Kongresses über neuropathische Schmerzen in Madrid.*
Läsion oder Dysfunktion von Strukturen des Nervensystems
Woran erkennt man neuropathische Schmerzen? Anhand eines exemplarischen Fallberichts zeigte der Referent auf, woran man neuropathische Schmerzen erkennt: Eine Patientin im mittleren Lebensalter klagte ihm über ein Taubheitsgefühl im linken Fuss. Begleitet wurde es von bohrenden und stechenden Schmerzen sowie elektrisierenden Sensationen in den Zehen und einem Brennen in einer Narbe am Unterschenkel. Zusätzlich verspürte die Frau eine Überempfindlichkeit auf Strümpfe. Die klinisch-neurologische Untersuchung ergab eine Allodynie (Schmerzempfindung auf normale Berührung) im Unterschenkel und Fussbereich sowie eine Hyperalgesie (verstärkte Schmerzempfindung bei schwachen Schmerzreizen). Die Narbe stammte von einer Tumorexzison im Bereiche des Unterschenkels. Somit musste es sich bei den Symptomen um ein Neurom handeln. Neurome führen typischerweise zu neuropathischen Schmerzen. Diese werden definiert als Schmerzen infolge einer Läsion oder Dysfunktion von Strukturen des Nervensystems. Die neuropathischen Schmerzen unterscheiden sich somit deutlich von entzündlich bedingten Schmerzen, die infolge von kutanen, muskulären oder viszeralen Gewebsläsionen entstehen. Auch Mischformen sind möglich.
Verlust von Nervenfasern – spontane Depolarisierungen
Typisch für neuropathische Schmerzen ist laut Jensen ein weites Spektrum von
NeuPSIG im Kampf gegen den Schmerz
Innerhalb der International Association for the Study of Pain (IASP®) existiert eine Special Interest Group on Neuropathic Pain (NeuPSIG), die sich der Erforschung der Grundlagen des neuropathischen Schmerzes sowie deren klinischen Auswirkungen widmet. Ein wichtiges Gebiet betrifft die Implementierung von Programmen, um die Entstehung solcher Schmerzen zu verhindern. Die Gesellschaft hat derzeit rund 600 Mitglieder, betreibt eine Website (www.neupsig.org) und organisiert Kongresse und Meetings.
Symptomen, die gleichzeitig auftreten, interindividuell bei identischer Ursache unterschiedlich ausgeprägt sein sowie individuell auch zeitlich schwanken können. Hierzu gehören der Verlust der Sensibilität sowie die erhöhte Sensibilität auf Berührungsstimuli, wie Hyperalgesie, Allodynie und Hyperpathie (verzögert auftretende explosive Schmerzantwort auf Schmerzreize). Charakteristisch sind auch stimulusunabhängige, plötzlich einschiessende Schmerzen sowie die Entstehung von Schmerzempfindungen nach repetitiver Stimulation. Schliesslich werden auch Parästhesien (abnorme, jedoch nicht unangenehme Empfindungen, z.B. Ameisenlaufen) und Dysästhesien (abnorme unangenehme Empfindungen, zum Beispiel Brennen, Prickeln, Kribbeln, Beissen) beobachtet. Die Ursachen für diesen Symptomkomplex liegen, wie Jensen erläuterte, im Verlust von Nervenfasern sowie einer peripheren wie zentralen Sensibilisierung auf Schmerzreize. Diese Sensibilisierung ent-
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steht infolge von spontanen Depolarisierungen in den verletzten Nervenfasern beziehungsweise -strukturen.
Jeder fünfte Diabetiker betroffen
Die postherpetische sowie die Trigeminusneuralgie zählen ebenso wie die diabetische periphere Neuropathie und die postoperative Neuropathie zu den peripheren Formen des neuropathischen Schmerzes. Nach Mastektomien kommt es in bis zu 20 Prozent der Frauen zu einem neuropathischen Schmerz. Beim Herpes zoster muss jeder vierte Betroffene über 50 Jahre mit einer postherpetischen Neuralgie rechnen. Andere Ursachen für periphere neuropathische Schmerzen sind weitere metabolische Störungen, Infektionen, Verletzungen, Toxine, Gefässkrankheiten, Ernährungsdefizite oder Tumoren. Jeder dritte Tumorpatient leidet zusätzlich an neuropathischen Schmerzen. Schmerzen nach Schlaganfällen oder infolge von ZNS-Tumoren, multipler Sklerose sowie Läsionen des Rückenmarks werden zu den zentralen Formen des neuropathischen Schmerzes gezählt. Gemeinsam sind all diesen Schmerzformen unter anderem die Dysästhesien.
Rahmen des Schmerzkongresses, «und Sie werden diesen Partner nie wieder verlieren!» Auf der visuell-analogen Schmerzskala von 1 bis 10 beurteilte Kletzko damals die Intensität seiner neuropathischen Schmerzen mit einem Wert zwischen 7 und 8. Heute liegen die Werte mit einer konstanten Schmerztherapie (Antikonvulsivum plus Opioid) zwischen 2 und 3. So muss Kletzko heute seine Situation einfach akzeptieren und er hat gelernt, damit umzugehen. Typisch ist, dass die permanente Schmerzpräsenz Betroffene wie Kletzko ständig zur Introspektion verleitet und sie so in ihren täglichen Aktivitäten wie Beruf, Familie und in ihrem sozialem Leben behindert und ablenkt. Zu diesem Schluss kommt auch eine internationale Umfrage bei rund 1200 Patienten mit neuropathischen Schmerzen: Laut Erich Kramer, Healthcare Divison, Harris Interactive, New York, der die Umfrage leitete, gipfeln die Ergebnisse in den zwei Hauptaussagen: dass erstens die Schmerzen einen starken Einfluss auf viele Bereiche ihres täglichen Lebens ausüben beziehungsweise die Betroffenen ernsthaft einschränken, und dass zweitens ein Bedürfnis nach einer besseren Behandlung ihrer Schmerzzustände besteht.
Unbefriedigende Therapie
Die Therapie unterscheidet sich grundsätzlich von einer Therapie inflammatorisch bedingter Schmerzen. So kommen beim neuropathischen Schmerz ausser der pharmakologischen Therapie auch die Stimulationstherapie (transkutan, spinal oder direkt im Hirn), die chirurgische Intervention sowie die kognitive Verhaltensoder Physiotherapie zum Zug. Bei der Pharmakotherapie werden ausser bei Mischformen keine antiinflammatorischen Substanzen eingesetzt, sondern beispielsweise als erste Wahl Antikonvulsiva oder Antidepressiva, Natrium-Kanal- und Opioide sowie NMDA-Blocker. Die N-Methyl-dAspartat-Antagonisten stehen heute allerdings im Verdacht, die Neurodestruktion zu verstärken. Topische Substanzen und Sympathikusblockaden ergänzen die therapeutischen Möglichkeiten. Leider bleiben die Erfolge limitiert, denn erstens führen die derzeit eingesetzten trizyklischen Antidepressiva, Antikonvulsiva und auch die Opioide zu Nebenwirkungen, und zweitens kommt es nur gerade bei jedem dritten Patienten zu einer moderaten bis guten Schmerzlinderung. Mehr als die Hälfte aller Betroffenen leiden weiter unter moderaten bis schweren Schmerz-
Dauerschmerz ohne Ende
Eines Tages, vor vier Jahren, wachte Harry Kletzko, heute Geschäftsführer der Deutschen Schmerzliga, mit einem bunten Strauss von Symptomen neuropathischer Schmerzen in seinen Unterschenkeln und Füssen auf. Der Haut war nichts anzusehen. Weder längeres Zuwarten noch eine kortisonhaltige Salbe brachten eine Besserung. Erst eine sorgfältige Abklärung bei einem Schmerzspezialisten sicherte die Diagnose: neuropathische Schmerzen auf dem Boden einer diabetischen peripheren Neuropathie. «Von diesem Tag, als ich mit den schmerzhaften Empfindungen in den Unterschenkeln und Füssen aufwachte, hatte ich einen neuen Partner, der mit allen meinen anderen Partnern um meine Aufmerksamkeit wetteiferte», sagte Kletzko anlässlich einer Pressekonferenz im
Pregabalin – ein neues Antikonvulsivum
Im Rahmen eines von Pfizer unterstützten Satellitensymposiums stellte Anthony Dickenson, Neuropharmakologe am Departement für Pharmakologie des University College London, einige pharmakologische Eckpunkte zu Pregabalin, einem neuen Antikonvulsivum mit analgetischen und anxiolytischen Eigenschaften vor. Die Substanz wird schnell und nahrungsunabhängig absorbiert (Tmax: 1 Std.), hat eine Plasmahalbwertszeit von 5,5 bis 6,7 Stunden und wird zu 98 Prozent unverändert renal ausgeschieden. Die Bioverfügbarkeit beträgt über 90 Prozent, und es gibt weder hepatische Effekte noch pharmakokinetische Interaktionen mit anderen Therapeutika. Im Rahmen von 10 klinischen Studien (alle doppelblind, plazebokontrolliert) wurden verschiedene Dosierungen von Pregabalin während einer Therapiedauer von 5 bis 13 Wochen erprobt. Bereits ab einer Dosis von 150 mg/Tag verzeichneten über 50 Prozent der Patienten eine Besserung. Bei einer Dosierung von 600 mg/Tag zeigten knapp 80 Prozent eine Besserung der Schmerzen. Schwindel, Schläfrigkeit und Ödeme waren die häufigsten Nebenwirkungen, die in je 3,5, 2,6 und 0,9 Prozent einen Abbruch der Behandlung bewirkten. Pregabalin ist zurzeit in der Schweiz noch nicht zugelassen. Zur Behandlung von neuropathischen Schmerzen bietet Pfizer bislang Neurontin an – ein Antikonvulsivum, welches bei diabetischer Neuropathie und postherpetischer Neuralgie indiziert ist.
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zuständen. Die oben erwähnte Umfrage fand heraus, dass die überwiegende Mehrheit der Betroffenen mindestens einmal pro Woche Schmerzintensitäten von 5 bis knapp 8 auf der analog-visuellen Schmerzskala misst.
Teufelskreis durchbrechen
Chronische Schmerzen schränken die Lebensqualität massiv ein. Vier von fünf Betroffenen leiden unter irgendeiner Form von Schlafstörung. Und zwei Drittel kämpfen mit Depressionen und Angstzuständen (Normalbevölkerung: 12%). Damit sind diese Zustände Teil des chronischen Schmerzsyndromes und begünstigen einen Teufelskreis, indem sie die Schmerzschwelle
herabsetzen und damit den Schlafstörungen und Depressionen sowie Angstzuständen weiteren Vorschub leisten. «Wenn Sie die Schmerzen behandeln, dann behandeln sie die Begleiterscheinungen gleich mit», riet Jensen eindringlich. Dies bedeutet für den Schmerzspezialisten, dass bei einer Schmerzanamnese immer auch der Schlaf und die Stimmungslage sowie die Funktionalität in Bezug auf Beruf und soziale Aktivitäten abgeklärt werden sollte. Bei der Behandlung chronischer Schmerzzustände kann es nicht in erster Linie darum gehen, Schmerzen vollständig zum Verschwinden zu bringen, sondern das vorrangige Ziel ist es, diese erträglich zu gestalten. Nur schon damit kann der Teufelskreis durchbrochen werden. Hierzu
gehört die umfassende Behandlung auch
anderer mit dem Schmerz einhergehen-
der Störungen. Dies kann umso besser ge-
schehen, je besser die ärztliche Schmerz-
ausbildung ist. Dazu sind schliesslich auch
neue und bessere Behandlungen erfor-
derlich.
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Dr. med. Thomas Ferber Postfach 412
8201 Schaffhausen E-Mail: thomasferber@mail.ru
Interessenlage: Der Autor wurde von der Firma Pfizer unterstützt.
Cancer therapies as varied as the patients you treat
Danke! Merci!
Aventis Pharma AG, Herostrasse 7, 8048 Zürich, www.aventis.ch Anzemet list B, all other products list A (Swissmedic). For further information, see Arzneimittelkompendium der Schweiz.
Grazie! Grazcha!
TXT/ADPR/34-03