Transkript
FORTBILDUNG q FORMATION CONTINUE
Angst und Depression bei kardiovaskulären Patienten
Welche Rolle spielen die selektiven Serotoninwiederaufnahme-Hemmer (SSRI)?
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Diese Übersicht diskutiert die
Sicherheit und Wirksamkeit
verschiedener Antidepressiva
bei Herz-Kreislauf-Patienten
und ihr Potenzial zur Verbes-
serung kardiovaskulärer
Outcomes.
Angst und Depression sind in der Allgemeinbevölkerung häufig, besonders aber unter Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen. Die Autoren dieser Übersicht im «British Medical Journal» suchten in Medline und Embase systematisch nach Publikationen, die für diese Assoziation eine biologische Erklärung liefern könnten, sowie nach Studien zur pharmakologischen Behandlung und zur Psychotherapie bei psychiatrisch auffälligen Herz-Kreislauf-Patienten.
Kardiovaskuläre Erkrankungen und psychiatrische Morbidität
Zur Verbindung von koronarer Herzkrankheit (KHK) oder Hypertonie mit Depression gibt es zahlreiche Belege, ebenso zeigen mehrere Studien eine Beziehung zwischen Angststörungen und KHK oder Hypertonie. Sicher könnte man die psychiatrische Morbidität bei Herz-Kreislauf-Patienten einfach damit erklären, dass die Eröffnung der Diagnose psychisch destabilisierend
wirkt. Diese Erklärung greift jedoch für jene Studien zu kurz, in denen prospektiv nachgewiesen wurde, dass Patienten mit Depression oder Angststörung vermehrt Probleme des Herz-Kreislauf-Systems und einen schlechteren kardiovaskulären Verlauf zeigten. Eine Studie sah beispielsweise einen 3,5fachen Mortalitätsanstieg bei depressiven Patienten im Vergleich zu nichtdepressiven innert der ersten sechs Monate nach Myokardinfarkt. Bei Hypertonikern ist das Vorliegen einer Depression mit der Entwicklung kardiovaskulärer Komplikationen in Verbindung gebracht worden. Verschiedene prospektive Untersuchungen scheinen auch auf eine Verbindung zwischen Angststörungen und späteren Herz-Kreislauf-Leiden sowie plötzlichen Todesfällen hinzuweisen. Eine biologische Erklärung für die Assoziationen erscheint den Autoren plausibel. So könne ein Mangel beim zentralen Neurotransmitter Serotonin nicht nur zu psychiatrischen Störungen führen, die erfolgreich mit selektiven Serotoninwiederaufnahme-Hemmern (SSRI) behandelt werden können, sondern auch das Risiko für Hypertonie und kardiovaskuläre Erkrankungen beeinflussen (Tabelle 1). SSRI können das kardiovaskuläre Risiko durch Hemmung der Plättchenaktivierung und Wiederherstellung einer gestörten Variabilität des Herzrhythmus reduzieren. Bei Hypertonikern ist eine autonome Dysfunktion vielfach nachgewiesen worden, die zum kardiovaskulären Risiko beitragen dürfte. Bei Hypertonie und Panikstörung ist auch eine überschiessende Ausschüttung von Noradrenalin und Adrenalin dokumentiert. Auf einer anderen Ebene beeinträchtigen psychische Symptome die Fähigkeit zur Therapieadhärenz, beeinflussen die Verträglichkeit medikamentöser Therapien und machen es für die Betroffenen schwe-
Merk-
punkte
q Angst, Panikstörung und Depression kommen bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit (KHK) und Hypertonie häufig vor.
q Für diese Assoziation gibt es eine plausible biologische Basis.
q Unbehandelte psychiatrische Erkrankungen verschlechtern die Prognose bei kardiovaskulären Problemen.
q Bei Herz-Kreislauf-Patienten sind SSRI zur Therapie der psychiatrischen Morbidität sicher und effektiv; Trizyklika sind besser zu vermeiden.
q Eine SSRI-Behandlung kann das Überleben nach Herzinfarkt bei depressiven Patienten verbessern.
q Diagnose und Behandlung psychiatrischer Störungen gehören zum klinischen Management von KHK und Hypertonie.
rer, Empfehlungen zur Lifestyle-Umstellung umzusetzen. Panikattacken, Angst und Depression gehen auch häufiger mit einer Unverträglichkeit von Antihypertensiva einher. Obwohl es also viele Hinweise gibt, ist die Erkennung von Angststörungen und Depressionen in der Grundversorgung wie auch im medizinischen Alltag der Spitäler noch allzu oft ungenügend. Allerdings kann es auch schwierig sein, die Sym-
730 A R S M E D I C I 1 4 q 2 0 0 4
FORTBILDUNG q FORMATION CONTINUE
Angst und Depression bei kardiovaskulären Patienten
Tabelle 1:
Evidenz für eine Verbindung zwischen Serotoninmangel und kardiovaskulärem Risiko
q Im Tierexperiment an der Katze führt eine Erhöhung des Serotonins um mehr als das Dreifache zu einem deutlichen Anstieg der Schwelle für Kammerflimmern und zu einer signifikanten Abnahme der efferenten sympathischen Aktivität des Herzens.
q Serotoninerge Neurone in der rostralen ventralen Medulla scheinen die Sympathikusaktivität zu regulieren.
q Die Pulsvariabilität, ein Marker der kardiovaskulären Reaktivität, die einen Schutz vor Arrhythmien und kardialen Ereignissen bieten könnte, ist bei Panikstörungen reduziert und bessert sich unter Behandlung mit SSRI.
q SSRI könnten vor einem kardiovaskulären Risiko schützen, indem sie die Plättchenaktivierung dämpfen (selbst bei Patienten unter Plättchenhemmern).
q Als Erklärung für die kardioprotektive Wirkung ist die hohe Affinität der meisten SSRI für den Serotonintransporter vorgeschlagen worden, die zu einer verringerten Serotoninspeicherung in den Blutplättchen führt.
ptome von Depression oder Angst (Tabelle 2) von denjenigen einer somatischen Erkrankung zu unterscheiden. Brustschmerz ist bei Panikattacken häufig, gegenüber der Angina pectoris aber eher über dem Herz als unter dem Brustbein lokalisiert, ohne Ausstrahlung in linke Schulter oder Arm, von anderer Qualität (eher scharf als zermalmend) sowie durch Belastung nicht reproduzierbar und von längerer Dauer sowie auch während Ruhe auftretend. Auch Differenzialdiagnosen des nichtkardialen Brustschmerzes – mikrovaskuläre Ischämie (Syndrom X) oder ösophageale Motilitätsstörungen – sollten in Betracht gezogen werden. Weitere diagnostische Fallstricke bieten die Unterscheidung trans-
ienter psychiatrischer Symptome von einer depressiven Erkrankung oder Angststörung sowie die Abgrenzung von Major Depression und Minor Depression, vor allem, da Letztere auf Medikamente schlechter anspricht.
Medikamentöse Therapie der psychiatrischen Morbidität
Viele Pharmakotherapien können von Allgemeinpraktikern oder Spitalärzten ohne psychiatrisches Konsilium verordnet werden. Für gewisse medikamentöse Behandlungen konnte neuerdings auch gezeigt werden, dass sie die Inzidenz von Herzinfarkten senken können, und es gibt Berichte, die für einen Trend zu besseren Überlebensraten nach instabiler Angina pectoris oder Myokardinfarkt sprechen.
Wirksamkeit in der Allgemeinbevölkerung Für die medikamentöse Behandlung von Depressionen bei körperlich Gesunden gibt es eine umfangreiche Evidenzbasis. Die Palette umfasst Trizyklika, SSRI, modifizierte Trizyklika und kombinierte Serotonin- und NoradrenalinwiederaufnahmeHemmer. In therapeutischer Dosierung verschrieben, führen sie alle nach sechs Wochen bei 60 bis 70 Prozent der depressiven Patienten zu einer Remission. Einige Trizyklika sind auch bei Panikstörungen effektiv, sie sind jedoch, zusammen mit kombinierten Serotonin- und Noradrenalinwiederaufnahme-Hemmern, als Mittel der Wahl durch die SSRI ersetzt worden, die auch bei anderen, zum Beispiel generalisierten, Angststörungen wirken. Trotz der bekannten Probleme werden bei Angststörungen auch Benzodiazepine weiterhin häufig eingesetzt.
Sicherheit Tierexperimente und theoretische Überlegungen haben bei der Verschreibung von trizyklischen Antidepressiva bei Herz-Kreislauf-Patienten Besorgnis geweckt. Die epidemiologischen und klinischen Studien konnten – zwar nur an kleinen Patientenzahlen – jedoch keine Verschlechterung bei Herzinsuffizienz und keine konsistente
Tabelle 2:
Kriterien für Depression und Angststörungen nach DSM-IV
Depression Major Depression Anhaltend gedrückte Stimmung oder Interessenverlust für die meisten Aktivitäten während mindestens 2 Wochen, inklusive mindestens 5 der folgenden Symptome: q Gewichtsverlust q verändertes Schlafmuster q Energieverlust q schlechte Konzentrationsfähigkeit q Agitation q reduziertes Selbstwertgefühl q suizidale Ideen oder Suizidpläne Minor Depression 3 oder 4 der obigen Symptome für 2 oder mehr Wochen
Angststörungen Allgemeine Befunde umfassen: q autonome Erregung (Arousal) q physiologische Reaktivität q Tremor oder Schütteln q Vermeidungsverhalten q Hypervigilanz Panikstörung Wiederkehrende spontane Panikattacken mit antizipatorischer Angst zwischen den Attacken und eng damit assoziierter Agoraphobie Generalisierte Angststörung Anhaltende Perioden übermässigen SichSorgens und Spannung Posttraumatische Belastungsstörung Einbrechende Flashbacks, Hypervigilanz und Vermeidungsverhalten nach traumatischem Stress Soziale Angststörung An spezifische Situationen gebundene Angst, charakterisiert durch Ängstlichkeit, exzessives Erröten und Vermeidungsverhalten
Häufung von plötzlichen Todesfällen bei normalem Einsatz nachweisen, und nach Myokardinfarkt schien die Mortalität unter Trizyklika im Vergleich zu keiner antidepressiven Therapie tiefer, stellen die Autoren fest. Orthostatische Hypertonie kann jedoch ein gravierendes Problem sein, insbesondere bei Herzinsuffizienz.
732 A R S M E D I C I 1 4 q 2 0 0 4
FORTBILDUNG q FORMATION CONTINUE
Angst und Depression bei kardiovaskulären Patienten
Nortriptylin (Nortrilen®) scheint weniger grosse BD-Abfälle zu verursachen als andere Trizyklika. Insgesamt halten die Bedenken gegenüber den älteren Triyzklika aber an, zumal es mit den neueren Antidepressiva Alternativen gibt, die bei vorbestehender kardiovaskulärer Erkrankung wegen ihres geringeren Risikopotenzials sicher vorzuziehen sind. SSRI haben keine anticholinergischen Effekte, und Berichte über Arrhythmien sind selten geblieben. In einer doppelblinden Vergleichsstudie bei Patienten mit ischämischer Herzerkrankung erreichten die meisten Teilnehmer unter dem SSRI Paroxetin (Deroxat®) ebenso wie unter Nortriptylin eine Remission der Depression, Paroxetin hatte jedoch signifikant weniger kardiovaskuläre Nebenwirkungen. Patienten mit Herz-Kreislauf-Leiden nehmen in aller Regel auch andere Medikamente (Antihypertensiva, Lipidsenker oder auch Antiarrhythmika) ein, von denen viele über die Zytochrom-P-450-Enzyme CYP2D6 und CYP3A4 metabolisiert werden. Die SSRI Paroxetin und Fluoxetin (Fluctine® und Generika) sind potente CYP2D6-Inhibitoren, Fluoxetin und Nefazodon (Nefadar®) hemmen auch CYP3A4. Die CYP2D6-Hemmung kann die Plasmakonzentrationen etwa von Propranolol (Inderal® und Generika), Metoprolol (z.B. Beloc®) oder Flecainid (Tambocor®) erhöhen, die Inhibition von CYP3A4 diejenigen von Simvastatin (Zocor® und Generika), Amlodipin (Norvasc®), Nifedipin (Adalat® und Generika), Diltiazem (Dilzem® und Generika) und Amiodaron (Cordarone® und Generika). In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Sertralin (Gladem®, Zoloft®), Citalopram (Seropram® und Generika) sowie Trizyklika ein deutlich geringeres Potenzial zur Enzymhemmung haben. Der kombinierte Serotonin- und Noradrenalinwiederaufnahme-Hemmer Venlafaxin (Efexor®) kann auch bei Patienten mit KHK eingesetzt werden. Vorsicht ist jedoch bei höheren Dosen (≥ 300 mg/Tag) angebracht, da es zu einer dosisabhängigen BD-Steigerung kommt.
Wirksamkeit hinsichtlich psychiatrischer Morbidität bei kardiovaskulären Erkrankungen Noch unlängst war die Evidenzbasis für die Wirksamkeit von Antidepressiva bei Herz-Kreislauf-Patienten mit psychiatrischer Morbidität sehr begrenzt. Entsprechende Belege liegen nun für die meisten SSRI (Sertralin, Fluoxetin, Paroxetin und Fluvoxamin [Floxyfral®]) aus fünf doppelblinden Vergleichs- oder plazebokontrollierten Studien bei Patienten mit Myokardinfarkt, ischämischer Herzerkrankung oder Hypertonie vor. In einer plazebokontrollierten Studie bei Patienten, die einen Herzinfarkt durchgemacht hatten, reduzierte Fluoxetin die Depression, war aber – paradoxerweise, wie die Autoren anmerken – nur bei geringgradiger Major Depression signifikant besser als Plazebo. Die bisher grösste doppelblinde Studie (SADHART, Sertraline Antidepressant Heart Attack Randomised Trial) umfasste 369 Patienten, die innert 30 Tagen nach Hospitalisation wegen Myokardinfarkt oder instabiler Angina pectoris zu Sertralin (50–200 mg/Tag) oder Plazebo randomisiert wurden. Alle Teilnehmer litten an einer Depression, die Beobachtungszeit betrug 24 Wochen. Sertralin erwies sich dabei hinsichtlich aller kardialer Parameter als so sicher wie Plazebo. Der SSRI war signifikant effektiver bei schwerer Depression und bei Patienten mit vorangegangenen depressiven Episoden, führte bei allen Behandelten insgesamt aber doch zu signifikant grösseren Verbesserungen auf einer globalen Befragungsskala. Fünf doppelblinde Studien haben SSRI bei depressiven Patienten mit zerebrovaskulärer Erkrankung untersucht. In dreien waren Fluoxetin und Citalopram effektiver als Plazebo. In einer vierten Studie war Fluoxetin wirksamer als Plazebo, allerdings nur in der offenen Follow-upStudie. In einer weiteren Untersuchung erwies sich Nortriptylin hinsichtlich Remission der depressiven Symptome Fluoxetin und gegenüber Plazebo als überlegen. In einer prophylaktischen Studie bei 137 Patienten nach Hirnschlag kamen spätere Depressionen signifikant seltener vor als unter Plazebo.
Einfluss von Antidepressiva auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen In einer Fallkontrollstudie bei 5336 Patienten reduzierten Fluoxetin, Sertralin oder Paroxetin das Myokardinfarktrisiko signifikant (Odds Ratio 0,59). In der erwähnten SADHART-Studie gab es einen Trend zu weniger schwer wiegenden kardialen Ereignissen in der SertralinGruppe (22,4% vs. 14,5%), den die Autoren als Hinweis auf einen kardioprotektiven Effekt bei Patienten mit psychiatrischer Komorbidität deuten. In einer offenen Studie war Fluoxetin in der BD-Senkung effektiver als das Antihypertensivum Moxonidin (Physiotens®). Glaubt man einer Beobachtungsstudie mit Dothiepin, können Trizyklika hingegen das kardiovaskuläre Risiko erhöhen. Dem steht aber eine Studie nach Hirnschlag gegenüber, in der sowohl Nortriptylin wie Fluoxetin im Vergleich zu Plazebo nach neunjähriger Beobachtungszeit zu einer signifikant niedrigeren Gesamtmortalität führten.
Nichtpharmakologische Therapien
Die kognitive Verhaltenstherapie war auch
erfolgreich bei Brustschmerzpatienten mit
negativen Resultaten umfassender kardio-
logischer Abklärungen. In einer neuen,
grossen Studie führte eine kognitive Ver-
haltenstherapie kurz nach Herzinfarkt zur
Besserung von Depression und sozialer
Integration, hatte aber keinen Einfluss auf
spätere kardiale Ereignisse.
q
Simon J.C. Davies (Psychopharmacology Unit, Dorothy Hodgkin Building, Bristol/ UK) et al.: Treatment of anxiety and depressive disorders in patients with cardiovascular disease. BMJ 2004; 328: 939– 943.
Halid Bas
Interessenlage: Die Institution des Hauptautors erhielt Educational Grants der Firma Pfizer und des Lundbeck Institute. Die Autoren erklären, dass sie selbst den Artikel zur Publikation vorgelegt haben und dass er peer-reviewed war.
734 A R S M E D I C I 1 4 q 2 0 0 4