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TAGUNGSBERICHT q COMPTE-RENDU DE CONGRÈS
«Migräneprophylaxe braucht ein umfassendes Konzept»
Ein Bericht von der 2. CNS Academy
UWE BEISE
Obwohl heute vor allem mit den Triptanen gut wirksame Medikamente zur Behandlung des akuten Migräneanfalls zur Verfügung stehen, kommen manche Patienten nicht um eine längerfristige Migräneprophylaxe herum. Anlässlich der 2. Tagung der CNS Academy* gab Professor Hans-Christoph Diener, Neurologe und Kopfschmerzexperte von der Universitätsklinik Essen, praktische Hinweise zu dieser Behandlungsform.
*2. CNS Academy Themenschwerpunkte: Schizophrenie,
Demenz, Migräne und ADHS; 22. Januar 2004,
Kongresszentrum Baden
Zieht man die aktuellen Richtlinien der verschiedenen Kopfweh- oder MigräneGesellschaften zu Rate, dann soll eine Migräneprophylaxe unter anderem erwogen werden, wenn Patienten mindestens dreimal pro Monat eine Attacke erleiden. Eine Auffassung, der Hans-Christoph Diener nicht widersprach, die er gleichwohl mit einer etwas weniger formal klingenden Behandlungsdevise bekundete: «Wenn der Patient zu Ihnen sagt: «So geht’s nicht weiter, es sind einfach zu viele Medikamente, die Behandlung greift nicht, sie hat zu viele Nebenwirkungen» – dann ist die Zeit für eine Migräneprophylaxe gekommen.» Um diese optimal zu gestalten, gelte es, einige Grundsätze zu beherzigen. Dazu gehört für den Neurologen zunächst eine angemessene Erwartungshaltung. Anders, als es manche Heilpraktiker – Diener nannte sie «Unheilpraktiker» – versprechen, sei es realistisch, die Anfallshäufigkeit und -intensität um die Hälfte zu reduzieren. Der Arzt möge sich davor hüten, seinem Patienten mehr zu versprechen, meinte der Kopfschmerzexperte. Auch Ungeduld ist bei der Migräneprophylaxe fehl am Platz. Der Therapie müsse genügend Zeit zur Wirkungsentfaltung gegeben werden. Drei Monate seien schon erforderlich, um ein Urteil über den Behandlungserfolg abgeben zu können. Und: Obwohl die Migräne eine chronische Krankheit sei, dürfe man nicht automatisch von einer lebenslangen Prophylaxe ausgehen. Wenn etwa nach sechs Monaten eine deutliche Besserung eingetreten sei, könne man ohne weiteres die Dosis der Prophylaxemedikamente reduzieren und die Behandlung versuchsweise ausschleichen, um zu sehen, ob die Patientin oder der Patient des Prophylaktikums noch bedarf. Oft wirke die Therapie noch Mo-
nate über die Zeit der Therapie hinaus. Diener hält das Führen eines Migränekalenders («Das ist nur etwas für Lehrer») dabei für überflüssig; es reiche aus, wenn die Patienten in ihrem Terminkalender eine Notiz über Auftreten und Schwere einer Attacke machten. Ausdrücklich unterstrich der Neurologe, dass eine Migräneprophylaxe nur im Rahmen eines integrierten Therapiekonzepts Erfolg versprechend sei. «Wenn Sie nur den Rezeptblock zücken, werden Sie Schiffbruch erleiden», gab er zu bedenken. Zu einem ganzheitlichen Ansatz gehöre neben der Medikation ein Stressund Schmerzbewältigungstraining und die progressive Muskelrelaxation. Der Patient müsse zum Experten seiner Krankheit werden. Nicht zu vergessen sei Ausdauersport, der nachweislich prophylaktisch wirke. «Der Patient kann das Prophylaktikum auf die Tischkante legen, fünf Kilometer laufen, und dann das Medikament einnehmen.»
“Wenn Sie nur den Rezept-
block zücken, werden Sie Schiff-
”bruch erleiden.
Einschleichend dosieren, nicht abrupt absetzen
Dass die medikamentöse Prophylaxe des Öfteren fehlschlägt, hängt offenkundig nicht nur mit den natürlichen gesetzten therapeutischen Grenzen zusammen. Therapieversagen beruht manchmal auch auf einer falschen Diagnose. Die Behandlung eines Cluster-Kopfschmerzes etwa mit Betablockern sei von vornherein vergeblich, meinte Diener. Fehler würden häufig bei der Dosierung der Medika-
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«Migräneprophylaxe braucht ein umfassendes Konzept»
Tabelle 1: Substanzen zur Migräneprophylaxe
Substanzen
Dosis
Nebenwirkungen
Kontraindikationen
Metoprolol ⇑⇑ 50–200 mg
(z.B. Beloc-Zok®),
Propranolol
40–240 mg
(z.B. Inderal®)
H: Müdigkeit, arterielle Hypotonie G: Schlafstörungen, Schwindel S: Hypoglykämie, Bronchospasmus, Bradykardie, Magen-Darm-Beschwerden, Impotenz
A: AV-Block, Bradykardie, Herzinsuffizienz, Sick-Sinus-Syndrom, Asthma bronchiale R: Diabetes mellitus, orthostatische Dysregulation, Depression
Flunarizin (Sibelium®)
⇑⇑ 5–10 mg
H: Müdigkeit, Gewichtszunahme G: Gastrointestinale Beschwerden, Depression S: Hyperkinesen, Tremor, Parkinsonoid
A: fokale Dystonie, Schwangerschaft, Stillzeit, Depression R: M. Parkinson in der Familie
Valproinsäure ⇑⇑ 500–600 mg H: Müdigkeit, Schwindel, Tremor
(z.B. Depakine®)
G: Hautausschlag, Haarausfall, Gewichtszunahme
S: Leberfunktionsstörungen
A: Leberfunktionsstörungen, Schwangerschaft (Neuralrohrdefekte), Alkoholmissbrauch
Nebenwirkungen gegliedert in H: häufig; G: gelegentlich; S: selten; Kontraindikationen gegliedert in A: absolut, R: relativ
⇑⇑ Aussage zur Wirksamkeit wird gestützt durch mehrere adäquate, valide klinische Studien (z.B. randomisierte klinische Studien) bzw. durch eine oder mehrere valide Metaanalysen oder systematische Reviews. Positive Aussage gut belegt.
mente gemacht. «Migräniker haben ein viel empfindlicheres Gehirn, sie reagieren deshalb stärker mit Nebenwirkungen auf die Medikamente.» Man müsse sich darüber im Klaren sein und dies auch den Patienten nahe bringen: «Die Wirkung setzt verzögert ein, und am Anfang haben Sie nur Nebenwirkungen.» Darüber müsse man den Patienten in angemessener Weise aufklären und mit einer einschleichenden Dosierung Rechnung tragen.
“Migräniker haben ein viel
empfindlicheres Gehirn, sie
reagieren deshalb stärker mit
Nebenwirkungen auf die
”Medikamente.
Diener ging auch im Einzelnen auf die verschiedenen Prophylaktika ein und nahm eine Unterteilung nach Wirksamkeitsevidenz vor (Tabellen 1 und 2). Zu den wirksamen Medikamenten gehören die Betablocker Metoprolol (z.B. Lopresor®), Propranolol (z.B. Inderal®) und Isoprolol (i.d. Schweiz nicht im Handel).
Kontraindiziert sind diese Substanzen jedoch bei Menschen mit Depressionen. Wichtig ist laut Diener, dass man Betablocker wegen der Gefahr einer Tachykardie niemals abrupt absetzt. Flunarizin (Sibelium®) gehört ebenfalls zu den eindeutig wirksamen Prophylaktika. Weil es müde macht, müsse es zur Nacht (in einer Dosis von 5 mg) gegeben werden. Die Hauptnebenwirkung, die den Einsatz der Substanz limitiert, besteht in der Gewichtszunahme. Kontraindiziert ist Flunarizin bei Patienten mit einer Depression. Flunarizin kann abrupt abgesetzt werden, wirkt aber wegen der langen Halbwertszeit noch zwei Wochen nach. Auch Valproinsäure (z.B. Depakine®) hat seine Wirksamkeit unter Beweis gestellt, allerdings senkt es nur die Häufigkeit, nicht die Schwere der Anfälle. Es wirkt zumeist in einer Dosis von 500 bis 600 mg (in retardierter Form), manchmal sind nach den Erfahrungen des Neurologen aber höhere Dosen erforderlich. Das Medikament darf nicht in der Schwangerschaft verabreicht werden, weshalb bei Frauen im gebärfähigen Alter eine Kontrazeption unbedingt erforderlich ist. Auch bei Valproinsäure ist mit Gewichtszunahme zu rechnen, die bei ein-
zelnen Patientinnen dramatisch ausfallen kann. Es gibt Menschen, die ein Kilogramm pro Woche zunehmen, was bei den Betroffenen auf einen Gendefekt im Insulinstoffwechsel zurückgeführt wird. In solchen Fällen wird die Therapie nicht aufrechtzuerhalten sein. Im Gegensatz zu allen anderen in Frage kommenden Prophylaktika führt das Antiepileptikum Topiramat (Topamax®) zu Gewichtsabnahme. Die Substanz wirkt am besten in einer Dosis zwischen 75 und 100 mg, während 50 mg nicht ausreichen und 200 mg von den Migränepatienten – anders als von Epilepsiekranken – nicht toleriert werden. Mit der Substanz liegen die umfassendsten Studien und die längsten Verlaufsbeobachtungen zu dieser Indikation vor. Demnach liegt die Responderrate bei 50 Prozent, also (nur) jeder zweite Patient profitiert. Bei dieser Substanz kann laut Diener bereits nach einem Behandlungsmonat entschieden werden, ob es wirkt oder nicht. Ganz wichtig sei auch hier ein langsames Aufdosieren in 25-mg-Schritten pro Woche. Die Handhabung von Topiramat erfordere viel Erfahrung und das Medikament gehöre nicht in die Hand des Allgemeinarztes,
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Tabelle 2: Substanzen zur Migräneprophylaxe der zweiten Wahl
Substanzen
Dosis
Nebenwirkungen
Kontraindikationen
Naproxen (z.B. Proxen®)
⇑ 2 x 250 mg H: Magenschmerzen 2 x 500 mg
A: Ulkus, Blutungsneigung R: Asthma bronchiale
Pestwurz
⇑ 2 x 75 mg
(z.B. Petadolex®)
Amitriptylin
⇑ 25–75 mg
(z.B. Saroten®)
H: Mundtrockenheit, Obstipation, Gewichtszunahme A: Glaukom, Prostatahypertrophie R: Herzrhythmusstörungen
Acetylsalicyl- ⇔ 300 mg säure (Aspirin®)
G: Magenschmerzen
A: Ulkus, Blutungsneigung R: Asthma bronchiale
Lisurid (Dopergin®)
⇔ 3 x 0,025 mg G: Müdigkeit, Übelkeit, Schwindel S: Muskelschwäche
A: Schwangerschaft, KHK, AVK, M. Raynaud
Pizotifen (Mosegor®)
⇔ 1–3 mg
H: Müdigkeit, Gewichtszunahme, Hunger G: Mundtrockenheit, Obstipation
A: Glaukom, Prostatahypertrophie R: KHK
Dihydroergot- ⇔ 1,5–6 mg amin (z.B. Dihydergot®)
H: Übelkeit, Parästhesien G: Kopfschmerzen, Durchfall, Schwindel S: Ergotismus
A: Schwangerschaft, Hypertonie, KHK, AVK
Magnesium ⇔ 2 x 300 mg H: Durchfall bei zu rascher Aufdosierung
keine
Cyclandelat (Cyclandelat Tripharma®)
⇔ 1200–1600 mg G: Müdigkeit
A: akuter Schlaganfall, Glaukom
Nebenwirkungen: H: häufig, G: gelegentlich, S: selten; Kontraindikationen: A: absolut, R: relativ KHK = koronare Herzkrankheit; AVK = arterielle Verschlusskrankheit
⇑ Aussage zur Wirksamkeit wird gestützt durch zumindest eine adäquate, valide klinische Studie (z.B. randomisierte klinische Studie). Positive Aussage belegt.
⇔ Es liegen keine sicheren Studienergebnisse vor, die eine günstige oder ungünstige Wirkung belegen. Dies kann bedingt sein durch das Fehlen adäquater Studien, aber auch durch das Vorliegen mehrerer, aber widersprüchlicher Studienergebnisse.
meinte Diener. Nebenwirkungen sind unter anderem Müdigkeit und Parästhesien (die mit einer Kaliumtablette täglich behoben werden können). Treten kognitive Einbussen als unerwünschte Störeffekte auf, bedeutet dies unweigerlich das Ende der Therapie. Sehr selten sind Leberfunktionsstörungen und Glaukom als Nebenwirkungen. Zu den ebenfalls wirksamen Prophylaktika zählen nichtsteroidale Antirheumatika
(NSAR). Magenschmerzen würden oft früher oder später oft auftreten, da auch hier Migräniker empfindlicher reagierten als der Rest der Bevölkerung. Immerhin können NSAR ohne weiteres abgesetzt werden. Ein Prophylaktikum mit unsicherer Wirkung ist Magnesium. Hauptnebenwirkung ist Durchfall bei zu schneller Aufdosierung. Magnesium könne womöglich als Add-on-Medikation plus Betablocker
einen Zusatznutzen einbringen, meinte Diener, der die Substanz ansonsten bei Patienten einsetzt, die «keine Chemie» wünschten und obendrein unter Verstopfung litten. «Dann haben wir zumindest ein Problem gelöst», vermerkte Diener. Eine gewisse Korrektur an seiner früheren Einschätzung nahm Diener in Bezug auf das Phytotherapeutikum Pestwurz (Petadolex®) vor. Diener hatte die Wirksamkeit des Phytotherapeutikums öffentlich wie-
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«Migräneprophylaxe braucht ein umfassendes Konzept»
derholt in Abrede gestellt, weil eine entsprechende Studie mit grossen Mängeln behaftet gewesen sei. Eine Neuevaluierung der Rohdaten in seiner Klinik habe jedoch ergeben, dass Pestwurz signifikant besser wirkt als Plazebo. Als zweites Phytotherapeutikum sei auch für Butterkraut eine dem Plazebo überlegene Wirksamkeit nachgewiesen. Diener warnte vor einem unkritischen Umgang mit Phytotherapeutika. Sie verursachten zwar eindeutig weniger Nebenwirkungen, könnten aber zuweilen durchaus schwere Leberfunktionsstörungen hervorrufen.*
Botulinumtoxin wohl unwirksam
Zu den Prophylaktika, denen man ein migräneprophylaktisches Potenzial zuschreibt, gehört Botulinumtoxin (Botox®). Die Annahme beruht unter anderem auf der Beobachtung, dass sich bei Frauen, die sich mit Botox die Falten wegspritzen liessen, auch die Migräne zu verbessern schien. Diener sagte dazu:«Diese Frauen sind in einem Alter, wo die Migräne ohnehin besser wird.» Inzwischen sind grosse Studien mit Botulinumtoxin abgeschlossen. Die Ergebnisse seien noch vertraulich, meinte Diener. Er liess allerdings
durchblicken, dass die Untersuchungen negativ ausgefallen seien. Zu den unwirksamen Medikamenten gehören ausserdem Hormone, Neuroleptika, klassische Antiepileptika und SSRI. Dihydroergotamin sei zwar schwach wirksam in der Prophylaxe, es kann aber bei Dauereinnahme selbst Kopfschmerz hervorrufen und hat in Deutschland seine Zulassung als Prophylaktikum verloren. Bei der menstruellen Migräne können laut Diener niedrig dosierte, schwächer wirksame Triptane über fünf Tage (z.B. Naratriptan 2x am Tag 1 mg) hilfreich sein. Manchem würde auch eine Kurzzeitprophylaxe mit NSAR helfen. Diener selbst hält allerdings aus eigenen klinischen Erfahrungen heraus in dieser Indikation nicht viel von den Substanzen; bei seinen Patientinnen würden sie kaum wirken. Auf hormonellem Weg kann prophylaktisch etwas erreicht werden, indem die «Pille» durchgegeben wird oder in der Pillenpause ein Östrogenpflaster geklebt wird. Schwierig kann die Migräneprophylaxe während der Schwangerschaft sein. Hier kommen als Medikamente ausser Magnesium nur Betablocker in Betracht. Phytotherapeutika erwähnte Diener in diesem Zusammenhang nicht.
Ungelöste Probleme
Diener wies abschliessend auf eine Reihe
ungelöster Probleme hin. So besteht – ab-
gesehen von Topiramat – keine Studie, die
länger als drei Monate lief («Die Migräne
dauert das ganze Leben»), ebenso wenig
gebe es – mit Ausnahme von Topiramat
und Valproat – Dosisfindungsstudien. Aus
nachvollziehbaren Gründen fehlen Stu-
dien bei Kindern und Schwangeren bis-
lang, auch zur Wirksamkeit von Kombina-
tionstherapien gibt es keine abgesicherten
Erkenntnisse. Das gilt auch für die Be-
handlung von Kombinationskopfschmerz,
wenn sich also zur Migräne ein Spannungs-
kopfschmerz gesellt. Wahrscheinlich hel-
fen hier am ehesten Amitriptylin und Val-
proinsäure.
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Uwe Beise
* Kurz nach der Veranstaltung hat Swissmedic die Zulassung für gewisse Pestwurzextrakte widerrufen (ARS MEDICI 4/2004, S.140).
Interessenlage: Die CNS Academy ist eine Einrichtung von Janssen-Cilag. Die Berichterstattung erfolgt ohne finanzielle Unterstützung oder Einflussnahme der Firma.
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