Transkript
SVDE-VERANSTALTUNG
Unabhängigkeit im Alter:
Mit Bewegung und proteinreicher Ernährung gegen Sarkopenie
CLAUDIA REINKE
Die meisten Menschen wollen alt werden, dies aber bitte nicht bettlägerig und pflegebedürftig. Vielmehr wünschen sie sich, nicht nur geistig fit, sondern auch körperlich agil, beweglich und so lange wie möglich unabhängig zu bleiben. Damit dies gelingt, ist der Erhalt der Muskelkraft bis ins hohe Alter eine der wichtigsten Voraussetzungen. Allerdings schwinden Muskulatur und Kraft mit den Jahren zusehends. Um diesen physiologischen Prozess hinauszuzögern, sind gezielte ernährungs- und bewegungstherapeutische Massnahmen erforderlich. Bei einem Symposium anlässlich des SVDE-Kongresses «Nutridays 2015» in Biel im März 2015 berichtete Professor Dr. med. Reto W. Kressig, Extraordinarius und Chefarzt für universitäre Altersmedizin am Felix-Platter-Spital in Basel, über die Möglichkeiten, die sich als wirksam erwiesen haben, um die körperliche Fitness zu bewahren.
Sarkopenie erhöht die Sturzgefahr
Der physiologisch bedingte altersassoziierte Verlust der Skelettmuskulatur ist ein langsamer, progredient verlaufender Prozess, der bereits im mittleren Lebensalter einsetzt und kontinuierlich fortschreitet, erklärte Kressig in seinen Ausführungen. Die gesamte Muskelmasse kann so im Lauf der Zeit um mehr als 30 Prozent abnehmen. Klinische Symptome dieses lange unbemerkt ablaufenden Geschehens manifestieren sich in der Regel erst im höheren Alter und werden dann unter dem Fachbegriff Sarkopenie zusammengefasst. Als besonders folgenschwer erweist sich, dass diese atrophischen Veränderungen der Muskulatur vor allem mit einer Abnahme der schnell kontrahierenden weissen Muskelfasern (Typ-2-Fasern) einhergehen, die – bei einem plötzlich drohenden Verlust des Gleichgewichts beispielsweise – besonders rasch und
effizient reagieren können. Diese Fähigkeit geht daher älteren Menschen zunehmend verloren; dementsprechend erhöht sich die Gefahr schwerer Stürze, mit all ihren sozialen und ökonomischen Folgen.
Wie kommt es zur Sarkopenie?
Die Entwicklung der Sarkopenie scheint multifaktoriell bedingt. Als Auslöser werden altersbedingte Veränderungen angesehen, für die – neben dem schleichenden Verlust der für die Innervation der Skelettmuskeln verantwortlichen Motoneurone – auch die abnehmende Produktion der Geschlechts- und Wachstumshormone, eine zunehmende Insulinresistenz und altersbedingte chronisch entzündliche Prozesse verantwortlich gemacht werden, ebenso wie eine mangelhafte Ernährung mit ungenügender Nährstoffversorgung und ein persistierender Vitamin-D-Mangel. Die Entwick-
lung wirksamer Therapieoptionen zur Prävention der Sarkopenie und ihrer Folgen steht laut Kressig inzwischen ganz oben auf der Agenda verschiedener Forschungszentren. Allerdings gibt es auch heute schon wirksame Massnahmen, die das Auftreten einer Sarkopenie verhindern oder zumindest hinauszögern können. Dazu gehören eine protein- und nährstoffreiche Ernährung, die ausreichende Zufuhr von Vitamin D und – ebenso unverzichtbar – regelmässige körperliche Bewegung (1).
Ernährung im Alter – was ist
zu beachten?
Im Alter kommt es häufig zu erheblichen Veränderungen der Essgewohnheiten, die früher oder später zu einer ungenügenden Nährstoffversorgung führen können. Ursachen dafür sind – neben Kauund Schluckbeschwerden – auch altersbedingte physiologische Modifikationen der Magenfunktionen, die unter anderem mit einer rascheren und länger anhaltenden Sättigung, einer geringeren Magensäureproduktion und einem reduzierten Resorptionsvermögen einhergehen. Da sich aufgrund der steten Abnahme der Muskelmasse und der nachlassenden Bewegungsfreude auch der Energiebedarf älterer Menschen um bis zu 25 Prozent und mehr vermindern kann, wird entsprechend weniger und zu wenig nährstoffdicht gegessen. Damit wächst das Risiko einer mangelhaften Nährstoffaufnahme, was den Verlust der Muskelmasse weiter beschleunigt. Um dies zu verhindern und der Sarkopenie wirksam vorzubeugen, müssen ältere Menschen nicht
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unbedingt mehr, sondern qualitativ besser und bewusst nährstoffreicher essen. Insbesondere ist auf eine proteinreiche Kost (siehe unten) und die regelmässige Zufuhr vitamin-, mineralstoff- und spurenelementreicher Lebensmittel zu achten. In gewissen Fällen kann es sinnvoll sein, die Ernährung durch die Gabe von Supplementen oder Trinknahrungen anzureichern. Vor allem ist jedoch auf eine ausreichende Vitamin-D-Versorgung zu achten, da dieser Nährstoff für den Knochenstoffwechsel, die Muskelproteinsynthese und damit die Sturzprophylaxe unverzichtbar ist.
Vitamin D – wichtig für die Muskelkraft
Vitamin D besitzt zahlreiche spezifische Rezeptoren an den Muskelzellen und hat einen dementsprechend grossen Einfluss auf die Muskelkraft. Niedrige Serumspiegel (< 50 nmol/l) führen daher bei älteren Personen zwangsläufig zu Muskelschwäche und Gebrechlichkeit und sind mit erhöhter Mortalität verbunden. Ein Vitamin-D-Mangel korreliert zudem mit einem erhöhten Sturzrisiko und Hüftfrakturen. Gerade Senioren leiden jedoch häufig an einem gravierenden Vitamin-DMangel, wie aus Studien hinreichend bekannt ist. Ältere Menschen können daher besonders von einer Vitamin-D-Supplementierung (mind. 800 IU pro Tag) profitieren. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich das Sturzrisiko bei Patienten nach Vitamin-D-Gabe um bis zu 22 Prozent reduzieren lässt (7), wobei inzwischen angenommen wird, dass Vitamin D vor allem auf die schnell kontrahierenden Muskelfasern wirkt.
Ältere Menschen haben einen hohen Proteinbedarf
Erhalt und Aufbau der Muskelmasse erfordern täglich eine ausreichende Proteinzufuhr. Aufgrund altersbedingter Stoffwechselveränderungen muss diese allerdings bei alten Menschen deutlich höher sein als bei jüngeren Erwachsenen. Ernährungsmediziner und Geriater empfehlen älteren Menschen daher, täglich zwischen 1,2 bis maximal 1,5 g Protein pro kg Körpergewicht zuzuführen (= ca.
80–90 g Protein/Tag bei 70 kg KG) (1), um einem möglichen Proteinmangel vorzubeugen. Damit die Muskelneusynthese auch optimal stimuliert wird, sollte diese Proteinmenge nicht auf einmal aufgenommen, sondern möglichst gleichmässig auf die drei Hauptmahlzeiten verteilt werden. Das heisst, dass pro Mahlzeit etwa 25 bis 30 g Proteine verzehrt werden sollten – ein Frühstück mit Ei und Schinken, Magerquark oder Käse wäre beispielsweise ein guter Start in den Tag. Ein weiterer Pluspunkt ist, dass eine gute Proteinversorgung in der Lage sein kann, einem Muskelverlust vorzubeugen, und zwar selbst bei krankheitsbedingter Inaktivität, wie klinische Studien gezeigt haben (2). Eine besondere Rolle beim Muskelaufbau spielen die Aminosäure Leucin und ihr Metabolit b-Hydroxy-b-methylbutyrat (HMB).
Leucin und HMB – unverzichtbare
Proteinbausteine für die Muskel-
synthese
Die essenzielle, verzweigtkettige Aminosäure Leucin und ihr Metabolit b-Hydroxy-b-methylbutyrat (HMB) sind für den Erhalt und Aufbau des Muskelgewebes unverzichtbar. Darüber hinaus hemmen sie den Abbau von Muskelmasse. Leucin ist vorwiegend in Milchprodukten, insbesondere in Molke, enthalten. Im Gegensatz zu Kasein hat Molkenprotein den Vorteil, dass es viel rascher resorbiert wird, für die Muskelneusynthese also auch schneller verfügbar ist. Dabei wird die Syntheserate von der Höhe des LeucinPlasmaspiegels bestimmt: Je höher der Plasmaspiegel, desto effizienter der Muskelaufbau. Daraus ergibt sich, dass die Zufuhr von leucinreichen Molkenproteinen kurz vor oder nach einem Krafttraining entsprechend positiv auf die Muskelmasse und Muskelkraft wirkt, wie Untersuchungen von Hayes et al. 2008 (3) belegen konnten. Etwa 5 Prozent des über die Nahrung aufgenommenen Leucins wird in HMB umgewandelt. Der aktive Metabolit greift über die Stimulation des mTOR-Rezeptors unmittelbar in die Signalkaskade ein, die das Wachstum der Muskelzellen anregt. HMB unterstützt somit die Muskelneu-
synthese, hemmt aber auch den Muskelabbau. Im Vergleich zu Leucin hat sich HMB hier als 40-mal wirksamer erwiesen. Die Wirksamkeit der Substanz konnte bisher erst in einigen wenigen Studien belegt werden. So zeigte eine kontrollierte klinische Studie, dass sich der Muskelverlust bei älteren gesunden Frauen (n = 15) trotz 10-tägiger Bettruhe durch die tägliche Gabe von 3 g HMB im Vergleich zu Plazebo (-2,5 kg; p = 0,02) signifikant mildern liess (-0,17 kg; p = 0,23) (4). Allerdings bildet der menschliche Organismus normalerweise weit weniger als die in der Studie eingesetzte HMB-Dosis, sodass solche Effekte vermutlich nur erzielt werden können, wenn die Substanz in ausreichender Menge substituiert wird. Um diese Studienresultate zu bestätigen, hält Kressig weitere, grösser angelegte Studien für erforderlich.
Muskelaufbau und Muskelkraft
brauchen tägliche Bewegung
Ausreichende Bewegung ist das A und O für eine funktionstüchtige Muskulatur. Auch im höheren Alter lassen sich Muskelmasse und Muskelkraft noch/wieder aufbauen und trainieren. Dass dies möglich ist, ist schon seit Jahrzehnten bekannt. Entsprechende Studien dazu haben die Autoren Liu und Latham 2009 in einem Cochrane-Review (121 Studien) analysiert. Dabei zeigte sich, dass konventionelles Krafttraining bei den betagten Studienteilnehmern (n = 6700) zu einer Zunahme der Muskelkraft führte, die mit einer deutlichen Verbesserung diverser Alltagsfunktionen verbunden war. Komplexere Alltagsfunktionen, Beherrschung des Gleichgewichts und die im Alter so nötige Sturzprävention liessen sich durch das Krafttraining jedoch kaum verbessern (5). Deshalb hält Kressig das konventionelle Krafttraining als alleiniges Fitnessprogramm im Alter für unzureichend. «Ältere Menschen brauchen vor allem Bewegung, die auch den Kopf involviert», so der Geriater. Nur so lassen sich auch Beweglichkeit und Koordination trainieren, also Fähigkeiten, die für die nötige Gangsicherheit und eine effiziente Sturzprävention benötigt werden. Hierfür haben sich Trainingsmethoden
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wie das chinesische Schattenboxen TaiChi bewährt, das bei regelmässiger Teilnahme eine signifikante Sturzreduktion um 47,5 Prozent bewirkt (6), sowie die Dalcroze-Rhythmik, die nach 6-monatigem Training zu einer besseren Gangregelmässigkeit und zu einer damit verbundenen Sturzprävention um 54 Prozent unter Dual-Task-Bedingungen führt (http://seniorenrhythmik.ch). Erfahrungsgemäss ist hier ein hoher Spassfaktor inbegriffen, so Kressig, was durch hohe Compliancewerte belegt wird.
Fazit
Eine drohende Sarkopenie sollte wegen ihrer schweren Konsequenzen (Stürze, Knochenbrüche, Verlust der Unabhängigkeit) möglichst frühzeitig diagnostiziert und systematisch ernährungs- und bewegungstherapeutisch behandelt werden. Als wichtige Ernährungsmassnahme für den Muskelaufbau gilt eine adäquate Proteinzufuhr (1,2–1,5 g/kg/KG Tag), die
auf die drei Hauptmahlzeiten verteilt sein sollte. Essenzielle Aminosäuren, insbesondere Leucin und ihr aktiver Metabolit b-Hydroxy-b-methylbutyrat (HMB) spielen über die Aktivierung des mTORRezeptors eine Schlüsselrolle für die Muskelproteinsynthese. Zusätzlich sollten Vitamin-D-Defizite ausgeglichen und eine ausreichende Substitution gewährleistet werden. Werden diese ernährungstherapeutischen Massnahmen durch regelmässige körperliche Aktivität ergänzt, lassen sich der bedrohliche Muskelschwund und seine Folgen verhindern. Damit kann auch im höheren Alter noch ein unabhängiges Leben gelingen.
Quelle: «FOKUS Muskelmasse und Muskelkraft – neue ernährungstherapeutische Ansätze»; Vortrag von Prof. Dr. med. Reto W. Kressig, Extraordinarius Universität Basel, Chefarzt und Bereichsleiter Universitäre Altersmedizin, Felix Platter-Spital Basel, bei einem Abbott Nutrition Symposium anlässlich des SVDEKongresses «NutriDays 2015» im Kongresshaus Biel/Bienne, am 27. März 2015.
Literatur: 1. Deutz NE, Bauer JM, Barazzoni R et al. Protein intake and exercise for optimal muscle function with aging: Recommendations from the ESPEN Expert Group. Clin Nutr 2014; 33: 929–936. 2. Ferrando AA, Paddon-Jones D, Hays NP et al. EAA supplementation to increase nitrogen intake improves muscle function during bed rest in the elderly. Clin Nutr 2010; 29: 18–23. 3. Hayes A, Cribb PJ. Effect of whey protein isolate on strength, body composition and muscle hypertrophy during resistance training. Curr Opin Clin Nutr Metab Care 2008; 11: 40–44. 4. Deutz NE , Pereira SL, Hays NP et al. Effect of b-hydroxy-b-methylbutyrate (HMB) on lean body mass during 10 days of bed rest in older adults. Clin Nutr 2013; 32: 704–712. 5. Liu CJ, Latham NK. Progressive resistance strength training for improving ohysical function in older adults. Cochrane Database Syst Rev 2009; (3): CD002759. 6. Wolf SL, Barnhart HX, Kutner NG et al. Reducing frailty and falls in older persons: an investigation of Tai Chi and computerized balance training. Atlanta FICSDIT Group. Frailty and Injuries: Cooperative Studies of Intervention Techniques. J Am Geriatri Soc 1996; 44: 489–497. Bischoff-Ferrari HA, Dawson-Hughes S, Staehelin HB et al. Fall prevention with supplemental and active forms of vitamin D: a metaanalysis of randomised controlled trials. BMJ 2009; 339: 843–846.
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