Transkript
ERNÄHRUNGSEMPFEHLUNGEN
Wie nützlich sind Ernährungsempfehlungen für die Generation 50+?
DOREEN GILLE*
Gesund ein hohes Alter zu erreichen ist der Wunsch der meisten Menschen auf der Welt. Damit dies auch gelingt, sollte man sich ein Leben lang aktiv bewegen und auf eine ausgewogene Ernährung achten – leichter gesagt als getan, denn obwohl es Ernährungsrichtlinien gibt, wissen viele Menschen nicht, wie sie diese umsetzen sollen. Wir haben Personen der Schweizer Generation 50+ über ihr Ernährungsverhalten, Ernährungswissen, aber auch über Meinungen, Ansichten sowie ihre Ängste und Sorgen im Hinblick auf tierische Lebensmittel befragt. Der vorliegende Text stellt diese Umfrage auszugsweise vor.
Die Bevölkerungsstruktur der Schweiz wie auch vieler anderer Industriestaaten weist eine typische Altersverteilung auf: eine niedrige Geburtenrate sowie ein Überhang an älteren Menschen führen zur sogenannten Urnen- oder Zwiebelform (Abbildung). Die medizinischen und hygienischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte ermöglichen den meisten Menschen Europas ein langes Leben. Nichtsdestotrotz wird der Alterungsprozess von vielen physiologischen Veränderungen und oft auch körperlichen Einschränkungen begleitet. Die Kombination aus viel Bewegung, Aktivität und einer ausgewogenen Ernährung ist ein Schlüsselfaktor, um gesund alt zu werden.
Die Lebensmittelpyramide im Test
Ein wichtiger Leitfaden für eine gesunde Ernährung ist die Schweizer Lebensmittelpyramide. Sie stellt eines der wichtigsten Hilfsmittel für Ernährungsfachleute
*Wiss. Mitarbeiterin, Agroscope, Inst. für Lebensmittelwissenschaften; Bern
dar, um dem Konsumenten die Grundsät- und Vitaminen gleich bleiben, und die ze einer ausgewogenen und gesunden Proteinaufnahme sollte leicht höher sein Ernährungsweise zu vermitteln. Aktuelle (5, 6). Bisher gibt es kaum Informationen Ernährungsstandards werden mit ihrer darüber, ob diese Bevölkerungsgruppe Hilfe in einfach verständliche Informatio- die Ernährungsempfehlungen kennt und nen übersetzt und präsentiert. Entspre- umzusetzen vermag, ebensowenig über chend ihrem amerikanischen Vorbild von ihre Verzehrsgewohnheiten, ihr Ernäh1992 wurde die Lebensmittelpyramide rungswissen und -verhalten. durch die Gesellschaft für Ernährung Ziel einer repräsentativen Umfrage war es 1998 in der Schweiz eingeführt (4). In daher, Daten zum Gesundheitsbewusstleicht abgewandelten Versionen berück- sein und Ernährungsverhalten der in der sichtigt sie auch die besonderen Ernährungsbedürfnisse älterer Menschen sowie anderer Bevölkerungsgruppen wie zum Beispiel von schwangeren Frauen oder Sportlern. Für Personen mittleren Alters und alte Menschen gelten zwar generell die gleichen Empfehlungen wie für Jüngere, jedoch mit der Einschränkung, weniger Kalorien aufzunehmen. Dabei muss die Aufnahme von Mineralien, Spurenelementen Abbildung: Altersaufbau der Bevölkerung in der Schweiz (1)
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Tabelle: Demografische Eigenschaften der Gesamtstichprobe
Gesamtstichprobe Geschlecht Frauen Männer Alter 50–59 Jahre 60–69 Jahre 70–81 Jahre Sprachregion Deutsch Französisch Italienisch Höchste abgeschlossene Ausbildung Tief (obligatorische Schule und äquivalent) Mittel (Berufsausbildung und äquivalent) Hoch (Universität und äquivalent) Andere/keine Daten BMI (berechnet) < 18,5 18,5–25 > 25–30 > 30 Keine Daten
N 632
323 309
254 313 65
318 192 122
82
280
248 22
13 312 224 70 13
(%) (100)
(51,1) (48,9)
(40,2) (49,5) (10,3)
(50,3) (30,4) (19,3)
(13,0)
(44,3)
(39,4) (3,4)
(2,1) (49,4) (35,4) (11,1) (2,1)
Schweiz lebenden Personen mittleren Alters sowie der alten Menschen zusammeln und herauszufinden, welchen Einfluss Ernährungsempfehlungen auf den Verzehr verschiedener Lebensmittelgruppen haben.
Die Umfrage – allgemeine Informationen
Die Teilnehmer der Umfrage wurden Ende September/Anfang Oktober 2012 durch das Marktforschungsinstitut LINK in Luzern zunächst telefonisch rekrutiert. Ziel war, eine repräsentative Auswahl hinsichtlich Alter (50–80 Jahre) und Geschlecht der Teilnehmenden sowie der verschiedenen Sprachregionen (deutsch-, französisch- und italienischsprachige Region) zu erreichen. Insgesamt haben sich 726 Personen passenden Alters bereit erklärt, den Fragebogen über ein OnlineProgramm oder auf dem Papier auszufüllen. Der Fragebogen bestand aus 4 Teilen mit insgesamt 50 Fragen. Teil 1 enthielt allgemeine Fragen zu Gesundheit und Ernährung, Teil 2 Fragen zu Milch und
Milchprodukten, Teil 3 Fragen zu Fleisch und Fleischprodukten und Teil 4 Fragen zum soziodemografischen Hintergrund der Person. Der vorliegende Bericht konzentriert sich auf die Auswertung des ersten Teils («Allgemeine Fragen zu Ernährung und Gesundheit») des Fragebogens. Von den 726 Personen, die sich zur Teilnahme bereit erklärten, haben 646 den Fragebogen ausgefüllt (25% online, 75% auf Papier); die Rücklaufquote lag bei 89 Prozent. Nach Überprüfung der Bögen mussten 14 Teilnehmer ausgeschlossen werden, da sie entweder jünger als 50 Jahre waren oder den Fragebogen nur unvollständig ausgefüllt hatten. Die demografischen Eigenschaften der Gesamtstichprobe sind in der Tabelle ersichtlich. Um die Einstellung der Zielgruppe gegenüber gesunder Ernährung zu evaluieren, haben wir gefragt: «Wie wichtig ist Ihnen eine gesunde Ernährung?» Die meisten Teilnehmer (96%) gaben an, dass ihnen eine gesunde Ernährung wichtig beziehungsweise eher wichtig ist. Auf die Frage, wie gesund die eigene Ernährung eingeschätzt wird, antworteten 92 Prozent mit «gesund» oder «eher gesund», 6 Prozent mit «weder gesund noch ungesund» und 2 Prozent mit «ungesund oder eher ungesund». In diesem Kontext war es interessant zu wissen, ob die Umfrageteilnehmer die Schweizer Lebensmittelpyramide kennen und sich im täglichen Leben auch danach richten.
Die Lebensmittelpyramide –
Kenntnisse und Umsetzung
Insgesamt gaben 71 Prozent der Befragten an, die Lebensmittelpyramide zu kennen (besonders Frauen, Personen jünger als 70 Jahre und Teilnehmer mit einem hohen Ausbildungsniveau); allerdings gaben nur 38 Prozent der Gesamtstichprobe (entspricht 56% der Befragten, die die Lebensmittelpyramide kennen) an, sich in ihren Ernährungsgewohnheiten nach den Empfehlungen der Pyramide zu richten. Dazu zählten besonders Frauen, Personen jüngeren Alters und Befragte mit hohem Ausbildungsniveau. Das Detailhandelsunternehmen Coop hat sich in einer Umfrage von 2009 ebenfalls
dafür interessiert, inwieweit in der Schweiz lebende Personen zwischen 15 und 74 Jahren die Lebensmittelpyramide kennen und ihren Empfehlungen folgen. Die daraus resultierenden Ergebnisse befinden sich im Einklang mit unseren Beobachtungen: in der Coop-Studie gaben 74 Prozent an, die Pyramide zu kennen; den Empfehlungen folgen jedoch 5 Prozent nie, 36 Prozent selten, 51 Prozent dagegen oft, während weitere 5 Prozent sich immer an die Empfehlungen halten. Ein Hinweis auf spezifische Unterschiede zwischen den Altersgruppen wurde in der Coop-Studie nicht gegeben (7). Um in etwa einschätzen zu können, ob die TeilnehmerInnen der aktuellen Umfrage wirklich die empfohlenen Portionen der verschiedenen Lebensmittelgruppen pro Tag konsumieren, haben wir ihnen die Frage gestellt: «Geben Sie an, wie häufig Sie folgende Lebensmittel konsumieren.» Als Antwortmöglichkeiten wurden die verschiedenen, in der Pyramide abgebildeten Lebensmittelgruppen aufgelistet und unterschiedliche Verzehrshäufigkeiten zur Auswahl angeboten (z.B. «2 Portionen am Tag»). Insgesamt gaben 93 Prozent der befragten Personen der Generation 50+ an, weniger als die 3 empfohlenen Portionen Milch und Milchprodukte täglich aufzunehmen. 56 Prozent konsumierten zudem weniger als die empfohlene 1 Portion Fleisch/Eier/Fisch pro Tag und 71 Prozent weniger als die 3 Portionen Kartoffeln/Hülsenfrüchte/Getreideprodukte. Auch den Konsum der mindestens 3 Portionen Gemüse am Tag erreichten nur 15 Prozent der Befragten, während 46 Prozent angaben, mindestens 2 Portionen Früchte zu essen. Eine detaillierte Analyse hat gezeigt, dass die Personen, die angaben, sich nach der Lebensmittelpyramide zu richten, den Konsum der empfohlenen Portionen Früchte, Gemüse und Milchprodukte am Tag eher erreichen als jene, die sich nicht danach richten. Des Weiteren konnten wir beobachten, dass Frauen die Hinweise zur Aufnahme der empfohlenen Mengen der verschiedenen Lebensmittelgruppen besser umsetzten als Männer; auch die Kenntnis der Lebensmittelpyramide war
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bei Frauen weiter verbreitet. Diese Beobachtungen könnten zum einen daran liegen, dass Frauen dieser Bevölkerungsgruppe traditionellerweise häufiger für den Einkauf zuständig sind und somit mehr mit Themen rund um Ernährung und Gesundheit sowie den Ernährungsempfehlungen der Lebensmittelpyramide in Berührung kommen als Männer. Nichtsdestotrotz muss berücksichtigt werden, dass die angegebenen Verzehrsmengen aller Lebensmittelgruppen sowohl bei Männern als auch bei Frauen weit davon entfernt waren, optimal zu sein. Neben den aus der Literatur bereits bekannten Geschlechterunterschieden im Ernährungsverhalten konnten wir auch signifikante Unterschiede zwischen den Bewohnern der verschiedenen Sprachregionen identifizieren. So konnte beispielsweise gezeigt werden, dass Teilnehmer aus der italienischen Sprachregion signifikant mehr Gemüse verzehren als die deutschsprachigen Teilnehmer und signifikant weniger Fleisch/Fisch/Eier essen als jene der anderen beiden Sprachregionen. Diese Erkenntnisse geben wichtige Einblicke in die Unterschiedlichkeit der Ernährungskultur in den verschiedenen Regionen, die bisher kaum eine andere Studie zeigen konnte, da die Bewohner des Tessins selten in frühere Befragungen einbezogen wurden.
Fazit
Die Ergebnisse der Umfrage haben gezeigt, dass ein grosser Teil der in der Schweiz lebenden Generation 50+ die Lebensmittelpyramide zwar kennt, ihre Empfehlungen aber nur schlecht umsetzt. Besonders die Schweizer Konsumenten ab 70 Jahren brauchen professionelle und vor allem einfach verständliche Ernährungsauskünfte, optimalerweise gleich mit entsprechenden Tipps zur praktischen Umsetzung. Eine besondere Rolle in diesem Kontext spielen die Ärzte: eine Frage der aktuellen Studie beschäftigte sich damit, welchen Quellen die Teilnehmer vertrauen, wenn sie sich über Ernährung und Gesundheit informieren möchten. Von 16 aufgeführten Quellen spricht die Generation 50+ das grösste und stärkste Vertrauen den Ärzten aus. Dieses Vertrauen sollte zugunsten des Konsumenten genutzt werden!
Korrespondenzadresse: Doreen Gille Agroscope Institut für Lebensmittelwissenschaften ILM Schwarzenburgstrasse 161 3003 Bern E-Mail: doreen.gille@agroscope.admin.ch
Literatur: 1. Bundesamt für Statistik. Die Demographische Entwicklung der Schweiz. www.bfs admin.ch/bfs/portal/en/index/themen/01/02 html 2013 [cited 2013 Nov 27]; Available from: URL: http://www.bfs.admin.ch 2. Eichholzer M, Camenzind E, Matzke A, Amado R, Ballmer PE, Beer M et al. Kampagne «5 am Tag». In: Bundesamt für Gesundheit, Editor. Fünfter Schweizerischer Ernährungsbericht.Bern: 2005. p. 1–1076. 3. Bundesamt für Gesundheit. Nationales Programm Ernährung und Bewegung 2008–2012. Bern: Swiss Federal Office of Health; 2008. 4. Schweizerische Gesellschaft für Ernährung SGE. Schweizer Lebensmittelpyramide – Hintergrundinformationen. Bern: SGE; 2011. 5. Keller U, Battaglia-Richi E, Beer M, Darioli R, Meyer K, Renggli A et al. Sechster Schweizerischer Ernährungsbericht. Bern: Bundesamt für Gesundheit; 2012. 6. Schweizerische Gesellschaft für Ernährung SGE. Schweizer Lebensmittelpyramide. 2013. [cited 2013 Nov 27]. 7. COOP. Esstrends im Fokus: «Gesund Essen: Einstellungen, Wissen und Verhalten». Basel: COOP; 2009. 8. Macdiarmid J, Blundell J. Assessing dietary intake: Who, what and why of under-reporting. Nutrition Research Reviews 1998; 11 (2): 231–253. 9. Smith AF. Cognitive Psychological Issues of Relevance to the Validity of Dietary Reports. Eur J Clin Nutr 1993; 47: S6–S18. 10. Subar AF, Thompson FE, Smith AF, Jobe JB, Ziegler RG, Potischman N, et al. Improving food-frequency questionnaires: A qualitative approach using cognitive interviewing. American Journal of Clinical Nutrition 1997; 65 (4): S1317–S1318. 11. Devine CM, Connors M, Bisogni CA, Sobal J. Lifecourse influences on fruit and vegetable trajectories: Qualitative analysis of food choices. Journal of Nutrition Education 1998; 30 (6): 361–370. 12. Degen M. Kriegskost und Konsumfreude. soz:mag - Das Soziologie Magazin 2004; 29–32. 13. McKie L, MacInnes A, Hendry J, Donald S, Peace H. The food consumption patterns and perceptions of dietary advice of older people. J Hum Nutr Diet 2000; 13 (3): 173–183. 14. Grunert KG, Wills JM. A review of European research on consumer response to nutrition information on food labels. J Public Health 2007; 385–399. 15. Cowburn G, Stockley L. Consumer understanding and use of nutrition labelling: a systematic review. Public Health Nutrition 2005; 8 (1): 21–28.
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