Metainformationen


Titel
Frühjahrsmüde
Untertitel
-
Lead
Meine Patientinnen und Patienten bestehen darauf, unter Frühjahrsmüdigkeit zu leiden. Die ersten Symptome treten bereits am 2. Januar auf, die letzten gehen nahtlos über in die Sommerschlappheit. Einerseits ist die Frühjahrsmüdigkeit etwas sehr Entlastendes und Bequemes für den diagnostikfaulen Hausarzt, denn die Patienten nehmen freundlich achselzuckend alles hin, was sie in dieser Jahreszeit plagt, und machen weder ihrem Doktor noch den höheren Mächten einen Vorwurf. Die grössten Hypochonder lächeln angstfrei, wenn bei ihnen 38 °C Temperatur oder ein Blutdruck von 200/100 mmHg gemessen wird.
Datum
Autoren
-
Rubrik
ARSENICUM
Schlagworte
-
Artikel-ID
10349
Kurzlink
https://www.rosenfluh.ch/10349
Download

Transkript


MEDIEN, MODEN, MEDIZIN

Arsenicum: Frühjahrsmüde

Meine Patientinnen und Patienten bestehen darauf, unter Frühjahrsmüdigkeit zu leiden. Die ersten Symptome treten bereits am 2. Januar auf, die letzten gehen nahtlos über in die Sommerschlappheit. Einerseits ist die Frühjahrsmüdigkeit etwas sehr Entlastendes und Bequemes für den diagnostikfaulen Hausarzt, denn die Patienten nehmen freundlich achselzuckend alles hin, was sie in dieser Jahreszeit plagt, und machen weder ihrem Doktor noch den höheren Mächten einen Vorwurf. Die grössten Hypochonder lächeln angstfrei, wenn bei ihnen 38 °C Temperatur oder ein Blutdruck von 200/100 mmHg gemessen wird. Ob ein erhöhtes PSA, eine Eisenmangelanämie, die Prodromi eines grippalen Infekts oder eine Depression – alles wird unter dem Titel Frühjahrsmüdigkeit abgehakt. Andererseits ist die Frühjahrsmüdigkeit aber etwas sehr Lästiges für den pädagogisch veranlagten, der Wissenschaft vertrauenden Hausarzt, der zudem seine Patienten ungerne arbeitsunfähig schreibt. Es gibt sie nämlich nicht – wenn man die wissenschaftliche Evidenz anschaut. Alle Serotoninund Melatonintheorien halten keiner Prüfung stand. Aber erklären Sie das bitte mal Ihren Patientinnen und Patienten, die seit mehr als 20 Jahren jedes Jahr unter Frühjahrsmüdigkeit leiden! Ich tue es – seit mehr als 20 Jahren – ohne jeglichen Erfolg. Mit zusammengepressten Lippen, die nur durch ein vermehrtes Gähnen entspannt wer-

den, hören die Patientinnen und Patienten wenig aufmerksam zu, wenn ich erläutere, dass es keinerlei Belege für die Existenz der Frühjahrsmüdigkeit gibt. Aus müden Augen schauen sie mich an, sehen aber nicht, wie klar die Argumente sind, die gegen dieses Syndrom sprechen. Und dann kontern sie mit dem Killerargument: «Ich hab sie aber!» Und nicht nur sie, sondern die Bürokollegen, die Verwandten, Bekannten, Freunde und Nachbarn leiden auch darunter. Trotz Frühjahr werde ich nicht müde, gegen dieses Phantom anzupredigen – man verzeihe mir dieses religiöse Verb, aber mich packt ein heiliger Eifer, und ich rede sozusagen in Zungen. Doch meine Botschaft trifft nur auf taube Ohren. Auch meine Versuche, über das Steigen der Säfte zu scherzen und auf den Wonnemonat zu pochen, waren erfolglos. Meine Patientinnen und Patienten wollte ich für das pralle Leben in der Natur sensibilisieren, das allgemeine Treiben, Knospen, Blühen, Balzen um sie herum – doch es ist ihnen egal. Sie sind frühjahrsmüde. Mögen die Kreaturen um sie herum noch so sehr mit Sex beschäftigt sein – sie interessieren sich für nichts und niemanden ausser der eigenen Schlappheit. Wach werden sie allenfalls, wenn ich sie nicht arbeitsunfähig schreibe. Mein unbarmherziges «Nein!» löst dann die Bitte nach Therapie aus. Das Heublumenbad in der eigenen Badewanne reicht nicht aus. Da müssen stärkere Roboranzien eingesetzt wer-

den. Vitamine. Extrakte aus Gingko oder anderen mehr oder weniger exotischen Pflanzen. Vermutlich wäre es sinnvoller, dem/der Partner/Partnerin einen Blumenstrauss mitzubringen, als Phytotherapeutisches zu schlucken, aber das fällt ihnen nicht ein. Sie wollen eine Kur verschrieben haben. Massage. Wickel. Irgendwann bin ich es dann müde – völlig jahreszeitenunabhängig – und verweise sie an unseren exzellenten Apotheker, der ein grosses Drogeriesortiment hat. Damit mache ich ihn, meine Patientinnen und Patienten und die Wirtschaft glücklich. Aus seinem Dorado voller Brennnesselentschlackungstees, Heilerdemasken, Saftkuren, Vitaminkombinationen, Seesandpeelings und Duftkerzen kommen meine Patientinnen und Patienten nach längerer Beratung mit prall gefüllten Taschen hervor – und schon geht es ihnen besser. Sie schlucken, salben, baden und können so vermeiden, sich gesund zu ernähren und für mehr Bewegung zu sorgen. Denn das wäre nicht gut bei ihrer Frühlingsmüdigkeit – die könnte ja besser werden oder gar verschwinden. Bei einem ausgedehnten Spaziergang während der Kirschblüte treffe ich den Apotheker, ein Veilchen im Revers, einen grossen Korb mit frisch gepflücktem Bärlauch am Arm. «Gegen Frühjahrsmüdigkeit?», frage ich. «Der Spaziergang, ja!», meint er lachend. «Aber das Zeug hier schmeckt einfach nur gut, als Pesto zu Pasta!»

456

ARS MEDICI 9 I 2015