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Titel
Arztgeheimnis
Untertitel
-
Lead
Das Arztgeheimnis, welches ja eigentlich ein Patientengeheimnis ist, ist ständig in Gefahr. Durch die Patienten selbst, die Indiskretionen ihrer Lieben, ihres Hausarztes und dessen MPA und durch Drittpersonen. Nicht nur Krankenversicherer und Behörden wollen viel bis zu viel wissen, sondern eigentlich alle sind interessiert, was die anderen so haben. Schon das Wartezimmer bietet jede Menge Raum für Spekulationen.
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Rubrik
ARSENICUM
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10328
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN

Arsenicum: Arztgeheimnis

Das Arztgeheimnis, welches ja eigentlich ein Patientengeheimnis ist, ist ständig in Gefahr. Durch die Patienten selbst, die Indiskretionen ihrer Lieben, ihres Hausarztes und dessen MPA und durch Drittpersonen. Nicht nur Krankenversicherer und Behörden wollen viel bis zu viel wissen, sondern eigentlich alle sind interessiert, was die anderen so haben. Schon das Wartezimmer bietet jede Menge Raum für Spekulationen. Allein durch die Tatsache, dass dort jemand sitzt, wird offenbart, dass der Jemand entweder ärztliche Hilfe sucht oder jemanden begleitet, der das tut. «Sehr bleich sieht der alte Aemisegger* aus! Hat er wieder Blutarmut?», beginnt die Hofegg-Bäuerin unser Gespräch, bei welchem eigentlich sie meine Fragen beantworten sollte. «Und jetzt ist auch klar, warum die kleine Hofer nicht am Kiosk schafft, der Ausschlag, den sie hat, der ist ja wirklich schlimm. Masern?», fährt sie fort. Mein eisernes Schweigen nimmt sie mir übel. «Also, mir können Sie es wirklich sagen! Ich schweige wie ein Grab, das wissen Sie doch, Herr Doktor!» Ich weiss, dass sie die grösste Klatschbase unseres Städtchens ist. Als meine Frau vor einigen Jahren drei Monate wegfuhr, um ihre kranke Mutter zu pflegen und ich eine dringliche Elektivoperation nicht mehr aufschieben mochte und eine junge, blonde Vertreterin einstellte, brachte die Hofeggerin das Gerücht auf, bei Doktors sei die Ehe am Ende und die Neue sei der Scheidungsgrund. Meine Vertreterin wunderte sich, dass alle Patienten ihr unterkühlt bis feindlich begegneten, bis die Hofeggerin sich unter einem

Vorwand einen Termin geben liess und ihr andeutete, dass man Ehebrecherinnen hierzulande nicht dulden würde. «Woher wollen Sie denn wissen, dass es eine Frau ist?», witzelte meine Vertreterin. «Vielleicht ist er ja mit einem Mann abgehauen?» Meine Schwulität sprach sich innert Stunden im Städtchen herum, was mir aber keine Patientenabwanderung, sondern einen Zustrom von homosexuellen Patienten bescherte, die sich von mir Wissen in «gay medicine» erhofften. Zwar erfüllte ich diese Erwartungen nicht, aber sie blieben mir treu. Und auch ihnen hämmere ich ständig ein, dass sie nichts Medizinisches offenbaren müssen. «Und was soll ich dem Chef sagen, warum ich krankgeschrieben war?», ist wohl eine der am häufigsten gestellten Fragen in meiner Praxis. «Nichts!», beschwöre ich die allzu Ehrlichen. Sie mussten eine Zeit lang tatsächlich nichts sagen, da das unser Lehrling übernahm. «Ja, der Herr Doktor hat den Abszess am Fudi eröffnet, in drei Tagen sollte Ihr Gipser wieder arbeiten können», plauderte die Azubi heiter am Telefon. Oder: «Nein, die war heute nicht da. Nein, sicher nicht. Den ganzen Tag nicht», teilte sie dem Arbeitgeber einer Patientin mit, der sich belogen und hintergangen fühlte. Erst das Attest der Kardiologie unseres Spitals stimmt ihn dann wieder milder. Sehr zu denken gibt mir aber vor allem meine eigene Geschwätzigkeit. Als bei einer Fortbildung, auf der ich neben Studienkollege T. sass, der Chairman bedauerte, dass man Prof. Wicki nicht als Tagespräsidenten begrüssen könne, weil er mit einem Schlaganfall

im Spital sei, regte ich mich nicht etwa über diese Indiskretion auf, sondern hätte Freund T. um Haaresbreite erzählt, dass Prof. Wicki keineswegs im Stroke Unit, sondern in der psychiatrischen Privatstation hospitalisiert sei, weil seine Geliebte ihn verlassen habe. Noch gefährlicher ist der Stammtisch mit befreundeten Ärzten, den wir «Balint-Gruppe» nennen. Da rutscht einem schon einmal ein Name raus, oder die Kollegen erraten auch so, über wen man redet. Manchmal frage ich mich, wer das Arztgeheimnis eigentlich noch will. Die Krankenkassen können sich nur schon aufgrund des Rezepts recht gut vorstellen, an was ihr Versicherter leidet. Die Patienten erzählten lustvoll jedermann, was sie haben. Und gelegentlich kommen sie in Lebensgefahr, wenn sich ein Vorbehandler unter Berufung aufs Arztgeheimnis weigert, uns zu informieren, was der Grund für die Bewusstlosigkeit war, die damals und jetzt wieder bei gemeinsamen Patienten aufgetreten ist.
* Alle Namen wurden geändert

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ARS MEDICI 8 I 2015