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STUDIE REFERIERT
Therapie des Schwangerschaftsdiabetes
Insulin, Glibenclamid oder Metformin?
Insulin gilt als Standard zur Behandlung von Schwangerschaftsdiabetes. Mittlerweile werden aber auch immer häufiger orale Antidiabetika wie Glibenclamid oder Metformin verschrieben. In einer Metaanalyse untersuchten amerikanische Wissenschaftler, mit welchem dieser Medikamente die besten Ergebnisse für die Mutter und das Neugeborene erzielt werden können.
British Medical Journal
Eine progressive Abnahme der Insulinsensitivität gehört zu den normalen Begleiterscheinungen der Schwangerschaft. Bei Frauen, die einen Gestationsdiabetes entwickeln, besteht bereits vor der Empfängnis eine verminderte Insulinsensitivität – trotz normaler Glukosetoleranz. Während der Schwangerschaft ist die freigesetzte Insulinmenge in Reaktion auf eine Glukoselast dann signifikant geringer als bei Schwangeren mit intaktem Zuckerstoffwechsel. Somit tragen zwei Mechanismen zur Hyperglykämie der Mutter bei: die erhöhte Insulinresistenz vor der Schwangerschaft sowie die Unfähigkeit der Betazellen, die zunehmende Resistenz während der Schwangerschaft zu kompensieren (1). Da die Hyperglykämie mit ungünstigen Ergebnissen für Mutter und Kind verbunden ist, gehört die Blutzuckersen-
MERKSÄTZE
O Insulin gilt als Standard zur Behandlung von Gestationsdiabetes.
O Metformin ist im Vergleich zu Insulin und zu Glibenclamid mit einer geringeren Gewichtszunahme der Mutter verbunden.
O Unter Glibenclamid kommt es häufiger zu Makrosomie als unter Insulin oder Metformin.
kung in den Normbereich zum Versorgungsstandard bei Schwangeren. Die meisten Frauen erreichen bereits mit einer Ernährungsumstellung und mehr Bewegung eine ausreichende glykämische Kontrolle. Bei einem kleinen Anteil der Schwangeren ist jedoch eine medikamentöse Behandlung erforderlich (1). Zur Behandlung von Gestationsdiabetes wurde Insulin lange Zeit als einziges Medikament angewendet. In Studien haben sich orale Antidiabetika mittlerweile jedoch ebenfalls als wirksam und sicher erwiesen. Aufgrund der unkomplizierten Applikation werden sie von Patientinnen und Ärzten häufig bevorzugt. Metformin (Gluocophage® und Generika) und Glibenclamid (Daonil® und Generika) kommen bei Schwangerschaftsdiabetes am häufigsten zum Einsatz (1). Mit Hilfe einer Metaanalyse wollten Montserrat Balsells von der Universitätsklinik Mútua de Terassa (Spanien) und ihr Team herausfinden, mit welchen Medikamenten die besten klinischen Ergebnisse für die Mutter und das Neugeborene erzielt werden können. Dazu werteten sie randomisierte kontrollierte Vergleichsstudien zwischen Metformin oder Glibenclamid und Insulin sowie Vergleichsstudien zwischen Metformin und Glibenclamid aus (2).
Glibenclamid versus Insulin
In sieben offenen Studien wurde Glibenclamid mit Insulin verglichen. An
der grössten Untersuchung nahmen 404 Patienten teil, in die verbleibenden sechs Studien wurden weniger als 100 Patienten eingeschlossen (2). Glibenclamid war im Vergleich zu Insulin mit einem höheren Geburtsgewicht des Kindes verbunden. Die gepoolte durchschnittliche Differenz betrug 109 g (95%-Konfidenzintervall [KI]: 35,9– 181). Zudem kam es häufiger zu Makrosomie. Die gepoolte Risk-Ratio (RR) lag bei 2,62 (1,35–5,08). Neonatale Hypoglykämien traten in der Glibenclamidgruppe ebenfalls häufiger auf. Die gepoolte RR betrug 2,04 (1,30– 3,20). Die Unterschiede bezüglich des Geburtsgewichts, der Makrosomie und der neonatalen Hyperglykämie waren statistisch signifikant. Bei 6,37 Prozent der Patienten (20/314) konnte mit Glibenclamid keine ausreichende glykämische Kontrolle erreicht werden (2).
Metformin versus Insulin
Die Wirksamkeit und die Sicherheit von Metformin und Insulin wurden in sechs offenen Studien verglichen. Bei Studienbeginn waren fast alle Patientencharakteristika beider Gruppen vergleichbar. Nur der Body-Mass-Index (BMI) vor der Schwangerschaft war bei den Teilnehmerinnen der Metformingruppe signifikant höher. Die gepoolte durchschnittliche Differenz betrug 0,78 (0,15–1,41) (2). Während des Studienzeitraums war Metformin im Vergleich zu Insulin mit einer geringeren Gewichtszunahme der Mutter verbunden (gepoolte durchschnittliche Differenz -1,14; -2,22 bis -0,06). Die Neugeborenen wiesen unter Metformin ein geringeres Gestationsalter bei der Geburt auf (gepoolte durchschnittliche Differenz: -0,16 Wochen; -0,30 bis -0,02), und es kam zu mehr Frühgeburten (gepoolte RR: 1,50; 1,04–2,16). Alle Unterschiede erreichten eine statistische Signifikanz. Des Weiteren wurde ein Trend zu einer geringeren Rate neonataler Hypoglykämien beobachtet (gepoolte RR: 0,78; 0,60– 1,01). Die Rate des Therapieversagens lag unter Metformin bei 33,8 Prozent (229/678 Teilnehmerinnen). Eine Auswertung im Hinblick auf sekundäre Endpunkte ergab, dass Metformin im Vergleich zu Insulin mit einer geringeren postprandialen Blutglukose verbunden war (gepoolte durchschnittliche Differenz: -0,14 mmol/l; -0,22 bis
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STUDIE REFERIERT
-0,05). Zudem kam es seltener zu schwangerschaftsinduzierter Hypertonie (gepoolte RR: 0,53; 0,31–0,90). Schwere neonatale Hypoglykämien wurden im Vergleich zu Insulin ebenfalls weniger häufig beobachtet (gepoolte RR: 0,62; 0,42–0,94). Aus einer Sensitivitätsanalyse ging hervor, dass der zu Baseline höhere BMI in der Metformingruppe während des Studienzeitraums bestehen blieb (gepoolte durchschnittliche Differenz: 0,68; 0,05–1,32) (2).
Metformin versus Glibenclamid
In zwei offenen Studien wurden die Wirksamkeit und die Sicherheit von Metformin und Glibenclamid verglichen. Die Teilnehmerinnen der Metformingruppe waren älter (gepoolte durchschnittliche Differenz: 1,36 Jahre; 0,07–2,64) und hatten zuvor bereits mehr Kinder geboren (gepoolte durchschnittliche Differenz: 0,37 Schwangerschaften/Patientin; 0,20–0,72). Alle anderen Patientencharakteristika waren zu Studienbeginn vergleichbar (2). Metformin war auch im Vergleich zu Glibenclamid mit einer geringeren Gewichtszunahme der Mutter verbunden (gepoolte durchschnittliche Differenz: -2,06 kg; -3,98 bis -0,14). Die Neugeborenen wiesen unter Metformin ein geringeres Geburtsgewicht auf als unter Glibenclamid (gepoolte durchschnittliche Differenz: -209 g; -314 bis -104). Zudem wurden weniger Makrosomien beobachtet (gepoolte RR: 0,33; 0,13– 0,81) und weniger Neugeborene waren gross für ihr Gestationsalter (gepoolte RR: 0,44; 0,21–0,92). Alle Unterschiede waren statistisch signifikant. Der Anteil der Behandlungsfehlschläge betrug unter Metformin 26,8 Prozent (48/ 179) und unter Glibenclamid 23,5 Prozent (40/170) (2).
Diskussion
Als wichtigstes Ergebnis erachten Monserrat Balsells und ihre Kollegen die Unterschiede zwischen Glibenclamid und Insulin. Unter Glibenclamid war das Geburtsgewicht um etwa 100 g höher, neonatale Hypoglykämien kamen doppelt so häufig vor, und die Makrosomierate war mehr als doppelt so hoch. Die Grössenordnung dieser Unterschiede ist Balsells’ Ansicht nach relevant für die klinische Praxis. Die höheren – wenn auch nicht signifikan-
ten – Raten an grossen Neugeborenen und an schweren neonatalen Hypoglykämien weisen in dieselbe Richtung (2). Beim Vergleich zwischen Metformin und Insulin waren die Unterschiede geringer ausgeprägt. In der Metformingruppe wurden bessere klinische Ergebnisse für die Mutter bezüglich der Gewichtszunahme, der postprandialen Blutglukose und der schwangerschaftsinduzierten Hypertonien erzielt. Die klinischen Ergebnisse der Neugeborenen waren ungünstiger im Hinblick auf das Gestationsalter bei der Geburt und auf Frühgeburten. Als günstigeres Ergebnis im Vergleich zu Insulin wurde eine geringere Rate schwerer neonataler Hypoglykämien unter Metformin beobachtet (2). Bei der Interpretation dieser Ergebnisse sollte der um 0,78 höhere BMI vor der Schwangerschaft in der Metformingruppe berücksichtigt werden, schreiben die Wissenschaftler. Bei vergleichbarem BMI zu Baseline wären die Unterschiede möglicherweise ausgeprägter ausgefallen (Hypertonie, schwere neonatale Hypoglykämie) oder hätten sogar eine statistische Signifikanz erreicht (Präeklampsie, Geburtsgewicht, gross für das Gestationsalter, neonatale Hypoglykämie) (2). Als Voraussetzung zur Anwendung oraler Antidiabetika bei Gestationsdiabetes erachten Balsells und ihre Kollegen, dass ähnliche oder bessere Ergebnisse im Vergleich zu Insulin erzielt werden. Aus den drei Metaanalysen geht ihrer Ansicht nach jedoch hervor, dass dies mit Glibenclamid nicht erreicht wird. Deshalb kommen sie zu dem Schluss, dass Glibenclamid bei Gestationsdiabetes nicht angewendet werde sollte, solange Metformin oder Insulin zur Verfügung stehen (2).
Kommentar
David Sacks von der Kaiser Permanente Southern California (USA) kommentiert die Studienergebnisse im Editorial. Er hält die geringere Gewichtszunahme der Schwangeren unter Metformin im Vergleich zu Insulin und zu Glibenclamid für eines der Schlüsselergebnisse. Da zwischen 10 und 46 Prozent der mit Metformin behandelten Frauen jedoch zusätzlich Insulin benötigten, ergibt sich für ihn die Frage, ob ein Vergleich zwischen beiden Einzelsubstanzen oder zwischen Kombinationseffekten aus
Metformin/Insulin und Insulin statt-
gefunden hat (1).
Die gegenüber Glibenclamid signifi-
kant geringere Makrosomierate unter
Metformin weist auf einen deutlichen
Vorteil von Metformin während der
Schwangerschaft hin. Sacks ist aller-
dings der Meinung, dass eine breitere
Informationsbasis nötig ist, bevor dazu
geraten werden kann, bei Gestations-
diabetes zugunsten von Metformin auf
Glibenclamid zu verzichten (1).
Im Hinblick auf den Nutzen beider ora-
ler Antidiabetika sollten seiner Mei-
nung nach einige Aspekte genauer un-
tersucht werden. So dauert es während
einer Schwangerschaft länger, bis Gli-
benclamid die Peak-Konzentration er-
reicht hat, und das Antidiabetikum wird
zudem schneller verstoffwechselt. Da
Metformin über die Niere ausgeschieden
wird, müsste bei der Dosierung mögli-
cherweise die zunehmende Filtrations-
rate in der Schwangerschaft berück-
sichtigt werden. Somit sind für beide
Substanzen noch Studien zur Dosie-
rung und zum Timing erforderlich (1).
Eine Kombination aus Metformin und
Glibenclamid wäre nach Sacks’ Mei-
nung ebenfalls eine Untersuchung wert.
Letztendlich hält er auch eine Unter-
suchung der Langzeitergebnisse von
Mutter und Kind für notwendig, um
die Sicherheit und den Nutzen beider
Substanzen bei Schwangerschafts-
diabetes abschliessend beurteilen zu
können (1).
O
Petra Stölting
Quellen: 1. Sacks DA: Which oral hypoglycaemic for gestational
diabetes? BMJ 2015; 350: h177. 2. Balsells M et al.: Glibenclamide, metformin, and insu-
lin for the treatment of gestational diabetes: a systematic review and meta-analysis. BMJ 2015; 350: h102.
Interessenkonflikte: 1) und 2) keine deklariert
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