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Diabetes und Depression
Koinzidenz beachten!
FORTBILDUNG
Aus einer Depression kann sich eine diabetische Stoffwechsellage entwickeln, und ein Diabetes mellitus kann selbst zu einer Depression führen. Das ist von erheblicher klinischer Relevanz. Deshalb sollen Diabetiker jährlich auf das Vorliegen einer Depression und auf Suizidalität untersucht werden.
Christoph Axmann
Menschen mit Diabetes haben gegenüber der Normalbevölkerung ein zwei- bis dreifach erhöhtes Risiko für eine Depression. Die Koinzidenz von Diabetes und Depression wiederum hat negative Konsequenzen für die Lebensqualität, die Diabeteseinstellung und die Prognose der Betroffenen.
Wie Depression zu Diabetes führen kann Eine klinische Depression ist mehr als nur eine schlechte Stimmung. Die Entstehung einer Depression wird heute als multifaktorielles Geschehen bei entsprechender genetischer
MERKSÄTZE
O Aus einer Depression kann sich ein Typ-2-Diabetes entwickeln, aber auch bei jedem anderen Diabetestyp kann eine Depression die Kohlenhydratstoffwechsellage verschlechtern.
O Eine dauerhafte Hyperglykämie wie auch eine schwere Hypoglykämie können zur direkten Stimulation der HPAAchse und zur Beeinträchtigung des Serotoninstoffwechsels mit der Folge einer Depression führen.
O Die Therapie der Depression bei Diabetes sollte psychotherapeutische, sozialtherapeutische und psychoedukative Massnahmen mit Erlernen von Stressbewältigungsstrategien umfassen. Oft sind Psychopharmaka indiziert, die bei Diabetikern schon bei mittelschwerer depressiver Episode eingesetzt werden sollten.
O In der Therapie des Diabetes bei Depression soll eine engmaschige ärztliche Begleitung zu einer Optimierung der Kohlenhydratstoffwechsellage führen. Die Auswahl der Antidiabetika soll für eine möglichst dauerhafte Blutzuckernormalisierung ohne Hypoglykämiegefahr sorgen.
Prädisposition diskutiert (vgl. Abbildung 1). Im Zusammenwirken mit auslösenden Stressoren (biologische Faktoren oder psychosoziale Belastungen) kann es zu zentralen neurobiologischen Veränderungen (dauerhafte Stimulation der Stressachse, Serotonin- und Noradrenalinmangel) mit neuronaler Dysbalance verschiedener Hirnareale kommen, die die Depressionssymptomatik generieren. Die Kriterien einer depressiven Episode werden in der ICD-10 beschrieben (vgl. Abbildung 2). Bei Vorliegen von zwei Hauptsymptomen und zwei Nebensymptomen ist der Schweregrad einer depressiven Episode als leicht einzustufen, bei zwei Hauptsymptomen und drei bis vier Zusatzsymptomen spricht man von einer mittelschweren depressiven Episode. Bestehen drei Hauptsymptome und vier oder mehr Zusatzsymptome, liegt eine schwere depressive Episode vor. Die dauerhafte Aktivierung der Stressachse führt zu einem Hyperkortisolismus, es entwickelt sich vermehrt viszerales Fettgewebe, der Bauchumfang nimmt zu, und eine metabolische Insulinresistenz entsteht oder wird verstärkt (vgl. Abbildung 3). Daraus können Hyperlipoproteinämie, arterielle Hypertonie und Diabetes mellitus entstehen. Zusätzlich kann es als Folge der Freisetzung von Zytokinen aus den viszeralen Adipozyten zu einer vaskulären Insulinresistenz kommen, die durch Vasokonstriktion, endotheliale Dysfunktion, vermehrte Proliferation der Gefässwand und Induktion einer chronischen Inflammation die Gefahr von Rupturen atheromatöser Plaques erhöht. Dabei entstehen intraarterielle Thromben, die zum Verschluss des betroffenen Gefässes mit Infarkt führen können. Darüber hinaus führt die aktivierte Stressachse zur autonomen Dysregulation mit Überwiegen des Sympathikus, die sich klinisch als verminderte Herzfrequenzvariabilität, nächtliches Non-Dipper-Verhalten beim arteriellen Hypertonus sowie potenziell vital bedrohliche, tachykarde Herzrhythmusstörungen zeigt. Schliesslich kommt es zu Verhaltensänderungen (Bewegungsmangel, Nikotinabusus), die einer erfolgreichen Diabeteseinstellung im Wege stehen. Diese sind allerdings als Ausdruck der Depression und nicht als bewusste Non-Compliance der Patienten zu werten. Aus einer Depression kann sich also ein Typ-2-Diabetes entwickeln, aber auch bei jedem anderen Diabetestyp kann eine Depression die Stoffwechsellage verschlechtern. Dies gilt es vor allem bei erhöhten und schwankenden Blutzuckerwerten zu berücksichtigen.
Wie Diabetes Depressionen auslöst
Sowohl eine dauerhafte Hyperglykämie als auch eine schwere Hypoglykämie können zu einer direkten Stimulation der
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FORTBILDUNG
Biologische Faktoren
O Hormonumstellung im Wochenbett
O schwere (chron.) körperliche Erkrankung (z.B. Infarkt)
O vaskuläre Insuffizienz O Drogen
Genetische Prädisposition
(Vulnerabilität)
Physikalische Einwirkung
(z.B. Lichtentzug, Vitamin-D-Mangel)
Neurobiologische Veränderungen
(HPA, Serotonin, Adrenalin)
Depressionssymptomatik (emotional, kognitiv, somatisch)
Psychosoziale Belastungen (aktuell, chronisch) O wiederholte Stressereignisse
in sensiblen Phasen der Hirnreifung (Verlusterlebnisse, Trennungen) O schwere Traumatisierungen (z.B. Missbrauch, Gewalt, PTBS) O Störung sozialer Rhythmen O soziale Isolation O chronischer Stress am Arbeitsplatz O Schmerzerfahrungen
Persönlichkeitsfaktoren (z.B. Introversion)
Bleibende Behinderung
Modifizierung und Besserung
Abbildung 1: Entstehung einer Depression (PTBS = posttraumatische Belastungsstörung; HPA = Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse)
Hauptsymptome O gedrückte, depressive
Stimmung O Verlust von Freude und
Interesse O Antriebsminderung und
erhöhte Müdigkeit
2 2 3
Zusatzsymptome O Konzentrationsstörung O vermindertes
Selbstwertgefühl O Schuldgefühle O pessimistische
Zukunftsperspektive O Schlafstörungen O Appetitveränderungen O Suizidalität
+2
+ 3–4
+ ≥4
Schweregrad leicht mittel schwer
Abbildung 2: Kriterien der depressiven Episode (ICD-10)
Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) und Beeinträchtigung des Serotoninstoffwechsels mit der Folge einer Depression führen. Die diabetesspezifischen Belastungen und der daraus resultierende diabetesassoziierte Disstress können hierbei zusätzlich eine beträchtliche Rolle spielen. Eine erfolgreiche Diabeteseinstellung ist daher stets die Grundlage zum Erreichen einer psychischen Stabilität. Es ist wichtig, dies den betroffenen Patienten zu vermitteln. Wichtig ist ein regelmässiges, jährliches Depressionsscreening. Das zentrale Instrument ist dabei das Arzt-Patienten-Gespräch. Der WHO-5-Fragebogen kann hierbei helfen, gegebenenfalls sollte eine weiterführende spezifische Depressionsdiagnostik erfolgen. Im Rahmen der Screeninguntersuchungen ist auf Suizidalität zu achten, die durch riskante Verhaltensweisen beim Diabetesmanagement evident werden kann. Hinweise können absichtlich herbeigeführte Hypoglykämien geben, ebenso das bewusste Auslassen von Insulinspritzen bei Typ-1-Diabetikern, die über eine verstärkte Glukosurie und Ketoazidose eine Gewichtsreduktion erzwingen wollen.
Folgen einer Depression bei Diabetikern
Diabetes und Depression zählen zu den 10 wichtigsten Krankheiten weltweit, die die Lebensqualität beeinträchtigen. Die Verminderung der Funktionalität führt bei den Betroffenen zu einem 7-fach erhöhten Risiko für eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und bis zu 5-fach erhöhten Behandlungskosten. Je schwerer die Depression, desto schlechter das Krankheitsverhalten, desto schlechter die Diabeteseinstellung, desto schlechter die Prognose. Die Mortalität bei Diabetikern mit schwerer depressiver Episode ist gegenüber Gesunden um das 4,6-Fache gesteigert. Angesichts dieser Daten wird die psychische Gesundheit der Menschen mit Diabetes ein wesentliches Ziel der Therapie.
Therapie der Depression bei Diabetes
Die Therapie sollte im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans erfolgen, der psychotherapeutische (kognitive Verhaltenstherapie), sozialtherapeutische und psychoedukative Massnahmen mit Erlernen von Stressbewältigungsstrategien umfasst. Regelmässige körperliche Aktivität kann leichte depressive Episoden verbessern. Oftmals sind Psychopharmaka indiziert, die bei Diabetikern schon bei mittelschwerer depressiver Episode eingesetzt werden sollten. Bei akuter Suizidalität müssen sofort ein Antidepressivum und eventuell begleitend ein Benzodiazepin gegeben werden. Die Auswahl des Antidepressivums erfolgt nach einem gegebenenfalls früheren Ansprechen und der Patientenpräferenz sowie dem Nebenwirkungsprofil, wobei in der Langzeitbehandlung mit einem Antidepressivum eine Gewichtszunahme vermieden werden sollte. Die Wirksamkeit eines Antidepressivums kann bereits nach zweiwöchiger Einnahme gut beurteilt werden (Selbstbeurteilungsbogen). Bei Diabetikern sind selektive SerotoninwiederaufnahmeHemmer (SSRI) als Antidepressiva wegen ihres günstigen Nebenwirkungsprofils gegenüber trizyklischen Antidepressiva (Gewichtszunahme) und Monoaminooxidasehemmern (Hypoglykämien) zu bevorzugen (Tabelle). SSRI haben zusätzlich eine appetithemmende Wirkung. In Studien haben SSRI bei Diabetikern sowohl Depressionssymptome als auch die Stoffwechseleinstellung verbessert. Zudem konnte die Dauer depressionsfreier Intervalle verlängert werden. Bei schmerzhafter diabetischer Polyneuropathie sollten Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI) wie Duloxetin oder Venlafaxin wegen ihrer Wirkung auf zentrale Schmerzbahnen zur Anwendung kommen. Die Ziele einer Antidepressivatherapie sind die vollständige Remission, das Erreichen einer Symptomfreiheit sowie die Wiederherstellung des psychosozialen Funktionsniveaus. Eine zuverlässige Vorhersage eines Therapieerfolgs bei einem bestimmten Antidepressivum ist auch heute noch nicht möglich. Allerdings spielt bei fehlender Wirkung häufig eine Non-Compliance des Patienten eine Rolle. Bei unzuverlässiger Medikamenteneinnahme sollte ein Gespräch mit dem Patienten darüber stattfinden.
Therapie des Diabetes bei Depression
Eine engmaschige ärztliche Begleitung der betroffenen Diabetiker soll zu einer Optimierung der Kohlenhydratstoffwechsellage führen. Eine gute Diabeteseinstellung stellt die Grundlage für psychische Stabilität dar. Im Vordergrund
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Tabelle:
Depressionstherapie bei Diabetes
Diagnosestellung und Feststellung des Schweregrads
Patient ohne diabetische Komplikationen
Patient mit diabetischer Neuropathie
Beginn mit SSRI (z.B. Sertralin 50 mg, Citalopram 20 mg) Überprüfung des Therapieerfolgs nach 2–4 Wochen mit Selbstbeurteilungsbögen (z.B. BDI) Remission: Fortführung der Therapie über 6–12 Monate Teilremission: Dosiserhöhung (z.B. Sertralin 100–150 mg, Citalopram 40–60 mg) Non-Response: Wechsel auf ein anderes Antidepressivum (z.B. SNRI, DNRI)
Beginn mit SNRI (z.B. Duloxetin 30 mg, Venlafaxin 75 mg) Überprüfung des Therapieerfolgs nach 2–4 Wochen mit Selbstbeurteilungsbögen (z.B. BDI) Remission: Fortführung der Therapie über 6–12 Monate Teilremission: Dosiserhöhung (z.B. Duloxetin 60–120 mg, Venlafaxin 150–225 mg) Non-Response: Wechsel auf ein anderes Antidepressivum (z.B. TZA, DNRI)
BDI: Beck-Depressions-Inventar; SSRI: selektive Serotoninwiederaufnahme-Hemmer; SNRI: Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer; DNRI: Dopamin-Noradrenalin-WiederaufnahmeHemmer; TZA: trizyklische Antidepressiva
Aktivierung der Stressachse bei Depression
Hypothalamus
CRH CRH CRH
Autonomes Nervensystem
Adrenalin
Verhalten
ACTH Kortisol
Autonome Dysregulation
O Herzfrequenzvariabilität
O Non-Dipper O Tachykardie O Rhythmus-
störungen O Kammerflimmern
Non-Compliance
Metabolisches Syndrom
O Bewegungsmangel O Nikotinabusus
O viszerale Adipositas
O metabolische Insulinresistenz
O vaskuläre Insulinresistenz
O RR , HLP O Typ-2-Diabetes
Gesteigerte inflammatorische
Antwort
O Aktivierung von NFκB
O Entzündungsmediatoren INF-α, TNF-α,IL-6, IL-1
O endotheliale Dysfunktion
O Koagulabilität, Plaqueruptur
Zunahme des kardiovaskulären Risikos KHK, akutes Koronarsyndrom, Myokardinfarkt, Herzinsuffizienz, Rhythmusstörungen
Abbildung 3: CRH = Corticotropin-releasing hormone; HLP = Hyperlipoproteinämie; ATCH = adrenokortikotropes Hormon; KHK = koronare Herzkrankheit; RR = Blutdruck n. Riva-Rocci; NFκB = nuclear factor «kappa-light-chain-enhancer» of activated B-cells; IL = Interleukin; TNF = Tumornekrosefaktor
sollte das Erfassen der individuellen Probleme und Wünsche der Patienten stehen. Das vertrauensvolle hausärztliche Gespräch ist hierbei eine wichtige und unabdingbare Voraussetzung. Die Auswahl der Antidiabetika soll für eine erfolgreiche, möglichst dauerhafte Blutzuckernormalisierung ohne
Hypoglykämiegefahr sorgen. Bei Typ-2-Diabetikern empfiehlt sich nach Metformin eine inkretinbasierte Therapie mit DPP-4-Hemmern oder bei Übergewicht mit GLP-1-Analoga, wodurch neben der Diabeteseinstellung auch das Körpergewicht, die Betazellfunktion, der systolische Blutdruck und die kardiovaskulären Risikomarker verbessert werden können. Bei Typ-1-Diabetikern können im Rahmen einer intensivierten konventionellen Therapie (ICT) als Bolusinsuline schnell wirkende Analoga (z.B. Insulin Lispro, Insulin Aspart, Glulisin) und als Basisinsuline neue lang wirksame Analoga (z.B. Insulin Degludec) Verwendung finden, die sich durch eine geringe intraindividuelle Variabilität, stabile Wirkprofile, Reduktion vor allem nächtlicher Hypoglykämien sowie Flexibilität im Applikationszeitpunkt auszeichnen.
Möglichkeiten der stationären Betreuung Wenn die Therapie von depressiven Diabetikern ambulant nicht erfolgreich ist, besteht die Indikation für eine stationäre Behandlung. Im Spezialbereich für psychisch kranke Diabetiker in unserer psychiatrischen Versorgungsklinik kann das gesamte Armamentarium antidepressiver Massnahmen zusätzlich zu einer engmaschigen diabetologischen Begleitung und umfangreichen internistischen Versorgung im Sinne eines «Collaborative care»-Ansatzes aufgeboten werden. O
Dr. med. Christoph Axmann Internist, Diabetologe DDG, ÄKN Oberarzt Privat-Nerven-Klinik Dr. Fontheim D-38701 Liebenburg
Interessenkonflikte: Der Autor hat honorierte Vorträge für die Firmen Eli Lilly, Aventis, NovoNordisk, MSD, Berlin-Chemie, Diabetes Akademie Niedersachsen, Novartis, Takeda sowie unhonorierte Vorträge auf regionalen, nationalen und internationalen Kongressen gehalten.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 17/2014. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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