Transkript
BERICHT
Diabetesrisiko, Zielwerte und Chirurgie
Welche Strategien sind empfehlenswert, welche eher nicht?
Langzeitbeobachtungen nach seinerzeit viel beachteten Interventionsstudien bieten aufschlussreiche Aktualisierungen des Wissens, wie Vorträge an einer Diabetesfortbildung in Bern bewiesen.
Halid Bas
Welches sind eigentlich geeignete Tests zur Erfassung einer Diabetesgefährdung bei älteren Erwachsenen? Hierzu gebe es verschiedene Ansichten und Traditionen, erwähnte Prof. Dr. med. Michael Brändle, Klinikleiter Endokrinologie, Diabetologie, Osteologie und Stoffwechsel, Kantonsspital St. Gallen. So stützt man sich in den USA vor allem auf eine abnormale Nüchternplasmaglukose, in Europa hingegen eher auf einen oralen Glukosebelastungstest, und neuere Studie bestätigen, dass die Bestimmung des HbA1c im mittleren
MERKSÄTZE
O Die Kombination der Werte von Nüchternblutzucker und HbA1c erlaubt bei älteren Menschen eine bessere Abschätzung des Diabetesrisikos.
O Bei Typ-2-Diabetikern bringt eine besonders intensive medikamentöse Blutdruck- und Blutzuckersenkung angesichts des heute gesamthaft besseren Diabetesmanagements nicht mehr viel Zusatznutzen.
O Ein «metabolisches Gedächtnis» für eine initial intensive Blutzuckerkontrolle lässt sich in der Inzidenz von Diabeteskomplikationen bei Typ-1-Diabetikern auch nach 18 Jahren noch nachweisen.
O Bei adipösen Patienten mit unkontrolliertem Diabetes ist die bariatrische Chirurgie eine Option.
Alter ein guter Prädiktor ist (Prädiabetes bei Werten zwischen 5,7 und 6,4%).
Diabetesrisiko: zwei verschiedene
Messwerte besser als einer
Die Zusatzauswertung einer amerikanischen Langzeitbeobachtungsstudie (Health ABC Study) hat bei 1690 älteren Erwachsenen (mittleres Alter 76,5 Jahre) die Korrelation von abnormaler Nüchternplasmaglukose (5,6–6,9 mmol/l) respektive erhöhtem HbA1c (5,7–6,4%) mit dem Auftreten einer bestätigten Diabetesdiagnose untersucht (1). In dieser älteren Population trat innert 7 Jahren bei 11 Prozent ein Diabetes mellitus auf, also bei 1,5 Prozent pro Jahr. Im Vergleich zu normalen Glykämieparametern war das Diabetesrisiko im Beobachtungszeitraum bei initial abnormem Nüchternblutzucker 3,5-mal und bei erhöhtem HbA1c 8-mal höher. Studienteilnehmer, bei denen beide Messwerte ursprünglich abnorm gewesen waren, hatten jedoch ein 26fach gesteigertes Diabetesrisiko. Umgekehrt war das Risiko für die Entwicklung eines Typ-2-Diabetes mit 3,4 Prozent innert 7 Jahren sehr klein, wenn beide Messwerte normal ausfielen. «Man kann sich natürlich fragen, was eine bessere Abschätzung des Diabetesrisikos bei Menschen über 75 Jahren noch bringt. Immerhin kann man für die Praxis den Schluss ziehen, dass bei Patienten mit erkennbar erhöhtem Risiko eine gelegentliche Überprüfung sinnvoll ist, um Hyperglykämien durch eine Therapie vorzubeugen», meinte Brändle.
HbA1c-Zielwert: sehr niedrig
ist nicht viel besser
Mit ADVANCE-ON ist eine 6-jährige Nachbeobachtungsstudie zur grossen ADVANCE-Studie erschienen (2), über die Dr. med. Fabian Meienberg, Leiter Sprechstunde, Endokrinologie, Diabetologie und Metabolismus, Universitätsspital Basel, sprach. Die ADVANCEStudie hatte über 11 000 Teilnehmer in einem faktoriellen 2×2-Design entweder zu Perindopril plus Indapamid (Coversum® N Combi oder Generika) versus Plazebo oder zu Gliclazid MR (Diamicron® MR oder Generika) versus Standardglukosekontrolle randomisiert. Nach einer 5-jährigen Beobachtungszeit hatten die aktiven Therapien zu um 5,6 mmHg systolisch und um 2,2 mmHg diastolisch tieferen Blutdruckwerten sowie zu einem um 0,8 Prozent tieferen HbA1c (6,5 vs. 7,3%) geführt. Rund 8500 Teilnehmer konnten in ADVANCE-ON weitere fünf Jahre nachbeobachtet werden. Die Unterschiede bei Blutdruck und HbA1c waren bei der ersten Nachkontrolle nach dem Interventionsende nicht mehr erkennbar. Die Differenzen in den Risikoreduktionen bei Gesamt- und kardiovaskulärer Mortalität schwächten sich während der Nachbeobachtung ab, blieben aber auch nach 10 Jahren signifikant. «Dieser Nutzen ist jedoch mit einer NNT (number needed to treat) von ungefähr 70 nicht gross», so Meienberg. Für die Patienten mit intensiverer Glykämiekontrolle waren bei Gesamtmortalität und makrovaskulären Komplikationen keine Vorteile zu erkennen, ein therapeutischer Nutzen ergab sich nur hinsichtlich des Auftretens terminaler Niereninsuffizienzen. «Dies steht in Widerspruch zu früheren Studien, die für eine intensive Blutzuckerkontrolle einen höheren therapeutischen
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BERICHT
Imeglimin – ein neues orales Antidiabetikum
Als «HOT Topic of the year» konnte Prof. Dr. med. Jacques Philippe, Médecin-chef du service d'endocrinologie, diabétologie et nutrition, Hôpitaux universitaires de Genève, die baldige Ankunft einer neuen Wirkstoffgruppe von Antidiabetika, der Glimine, ankündigen. Als erster Vertreter wurde Imeglimin als Add-on bei mit dem Dipeptidylpeptidasehemmer Sitagliptin (Januvia®, Xelevia®) inadäquat kontrollierten Typ-2-Diabetikern hinsichtlich Wirksamkeit und Verträglichkeit untersucht (6). In der randomisierten, doppelblinden, plazebokontrollierten Studie war der primäre Endpunkt die Veränderung von HbA1c im Vergleich zu Plazebo nach zwölf Wochen. Imeglimin reduzierte das HbA1c um 0,60 Prozent, während unter Plazebo ein Anstieg um 0,12 Prozent auftrat (p < 0,001). Die entsprechenden Veränderungen beim Messwert Nüchternplasmaglukose betrugen -0,93 mmol/l mit Imeglimin und -0,11 mmol/l unter Plazebo (p < 0,001). Mit Imeglimin nahm der HbA1c-Wert bei 54,3 Prozent der Studienteilnehmer um mindestens 0,5 Prozent ab, unter Plazebo hingegen nur bei 21,6 Prozent (p < 0,001). Unter Imeglimin erreichten immerhin 19,8 Prozent ein HbA1c von 7 Prozent oder tiefer; dies war mit Plazebo nur bei 1,1 Prozent der Fall (p = 0,004). Imeglimin bot als Add-on zu Sitagliptin somit einen therapeutischen Zusatznutzen und hat das Potenzial, die Palette der oralen Antidiabetika künftig zu erweitern.
Nutzen gezeigt haben», erwähnte Meienberg. «Mögliche Gründe könnten die gute Diabeteseinstellung auch in den Kontrollgruppen, eine zu kurze Beobachtungszeit, das fortgeschrittenere Krankheitsstadium der hier untersuchten Patienten und der mittlerweile sehr verbreitete Einsatz von Statinen sein.»
«Metabolisches Gedächtnis»
bei Typ-1-Diabetikern
Für Patienten mit frisch diagnostiziertem Typ-1-Diabetes hat eine konsequente Blutzuckereinstellung jedoch einen anderen Stellenwert, wie die DCCT-Studie (Diabetes Control and Complications Trial) zeigen konnte. In dieser Interventionsstudie hatte eine intensive Behandlung mit ehrgeizigem Therapieziel («near-normal glucose level») im Vergleich zu einer konventionellen Therapie das Risiko für die Entwicklung und das Fortschreiten einer diabetischen Retinopathie um 76 Prozent reduziert, erinnerte PD Dr. med. Christoph Henzen, Chefarzt, Medizin II, Endokrinologie und Diabetologie, Kantonsspital Luzern. Die Nachbeobachtungsstudie EDIC (Epidemiology of Diabetes Interventions and Complications) konnte auch 4 Jahre nach Interventionsende belegen, dass das Risiko für eine Progression der Retinopathie trotz inzwischen gegenüber der seinerzeitigen Kontrollgruppe nahezu gleichen HbA1c-Werten immer noch massiv geringer war, was als
«metabolisches Gedächtnis» bezeichnet wird. Nun sind die EDIC-Daten nach beachtlichen 18 Jahren Follow-up publiziert worden (3). Die kumulativen Inzidenzen für Retinopathieprogression, Übergang in eine proliferative Retinopathie, klinisch bedeutsames Makulaödem und Notwendigkeit von therapeutischen Interventionen am Auge (Fotokoagulation, Anti-VEGFMedikamente) waren auch nach diesem langen Zeitraum bei den ursprünglich rigoroser eingestellten Patienten tiefer als in der seinerzeit konventionell behandelten Gruppe. Die jährliche Risikoreduktion betrug 12 Prozent. Die jährlichen Inzidenzraten für diese Komplikationen nähern sich jedoch langsam an, teilweise wohl als Folge einer Risikoreduktion auch in der früher konventionell behandelten Gruppe. Als Mechanismus für das metabolische Gedächtnis nach einer initial intensiven Blutzuckerkontrolle werden epigenetische Histonveränderungen postuliert (4).
Bariatrische Chirurgie:
nützliche Behandlungstrategie
In randomisierten Studien von 1 oder 2 Jahren Dauer waren bariatrische Eingriffe mit einer Besserung des Typ-2Diabetes assoziiert. Nun konnte Meienberg über die 3-Jahres-Verläufe bei 150 adipösen Patienten mit unkontrolliertem Typ-2-Diabetes berichten, die entweder zu einer intensiven medika-
mentösen Behandlung allein oder in
Kombination mit einem Roux-en-Y-
Magenbypass oder einer Sleeve-Gast-
rektomie (Schlauchmagen) randomi-
siert worden waren (5). Primärer End-
punkt war ein HbA1c ≤ 6,0 Prozent.
Dieser wurde in der nur medikamentös
behandelten Gruppe bei 5 Prozent, bei
den Patienten nach Magenbypass in
38 Prozent (p < 0,001) und nach
Sleeve-Gastrektomie in 24 Prozent (p =
0,01) erreicht. Bei den chirurgisch be-
handelten Patienten war der Bedarf an
blutzuckersenkenden Medikamenten
(inkl. Insulin) tiefer, und sie nahmen
signifikant stärker an Körpergewicht
ab. Die erfassten Daten zur Lebensqua-
lität fielen bei den operierten Typ-2-
Diabetikern ebenfalls signifikant besser
aus. Nach den bariatrischen Operatio-
nen wurden keine Spätkomplikationen
beobachtet. «Die bariatrische Chirur-
gie stellt somit eine nützliche Behand-
lungsstrategie dar», resümierte Meien-
berg.
O
Halid Bas
«The year in Diabetes 2014», Zentrum Paul Klee, Bern, 11.12.2014.
Referenzen: 1. Lipska KJ et al.: Elevated HbA1c and fasting plasma
glucose in predicting diabetes incidence among older adults: are two better than one? Diabetes Care 2013; 36(12): 3923–3929. 2. Zoungas S et al.: Follow-up of blood-pressure lowering and glucose control in type 2 diabetes. N Engl J Med 2014; 371(15): 1392–1396. 3. Diabetes Control and Complications Trial (DCCT)/Epidemiology of Diabetes Interventions and Complications (EDIC) Research Group: Effect of intensive diabetes therapy on the progression of diabetic retinopathy in patients with type 1 diabetes: 18 years of follow-up in the DCCT/EDIC. Diabetes 2015; 64(2): 631–642. 4. Miao F et al.: Evaluating the role of epigenetic histone modifications in the metabolic memory of type 1 diabetes. Diabetes 2014; 63(5): 1748–1762. 5. Schauer PR et al.: Bariatric surgery versus intensive medical therapy for diabetes – 3-year outcomes. N Engl J Med 2014; 370(21): 2002–2013. 6. Fouqueray P et al.: The efficacy and safety of imeglimin as add-on therapy in patients with type 2 diabetes inadequately controlled with sitagliptin monotherapy. Diabetes Care 2014; 37(7): 1924–1930.
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