Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Arsenicum: Alles wieder hell
Die Sonnenfinsternis haben wir ja nun glücklich überstanden. Vermutlich hat sich keine(r) meiner PatientenInnen einen Netzhautschaden zugezogen. Aber vielleicht weiss ich es einfach nicht, weil sie zum Augenarzt gegangen sind. An Warnungen haben wir es nicht fehlen lassen. Das Merkblatt des Kantonsarztamtes haben wir nicht nur aufgehängt, sondern alle PatientInnen wurden darauf einzeln angesprochen. Mindestens ein Dutzend unserer Kunden, die keine Spezialbrille mehr kaufen konnten, waren der Überzeugung, das altehrwürdige berusste Glas oder zwei Sonnenbrillen übereinander würden ausreichen, um die Eklipse gefahrlos zu beobachten. Falls sie sich unsere Aufklärung zu Herzen genommen und auch befolgt haben, könnten wir präventivmedizinisch echt gepunktet haben. Man könnte das berühmte Götz-Zitat invers zitieren: «Wo viel Schatten ist, da ist starkes Licht». Oder über die Tatsache philosophieren, dass ein Blick in die Finsternis, beziehungsweise in etwas Strahlendes, gefährlich sein kann. Mehr interessiert mich aber, warum dieser Blick geworfen werden muss. Warum will sich eine so grosse Anzahl von Menschen die Sonnenfinsternis so dringend anschauen, dass die Spezialbrillen-Optikfirmen ausverkauft sind? Es gibt sogar Eklipsentouristen, die rund um die Welt fliegen, um Sonnenfinsternisse zu beobachten. Und zwar nicht nur Hobbysterngucker, sondern auch Leute, die Astronomie nicht von Astrologie unterscheiden können.
Adalbert Stifter nehmen wir nicht übel, dass er 1842 ein wenig stark reagierte. Als Biedermeier-Dichter mit Alkoholproblemen durfte er «verwirrten und betäubten Herzens» sein und lange über das Phänomen und seine daraus resultierenden Emotionen schreiben. Seine Verzückung rechtfertigte er: «Man wende nicht ein, die Sache sei ja
natürlich und aus den Bewegungsgesetzen der Körper leicht zu berechnen; die wunderbare Magie des Schönen, die Gott den Dingen mitgab, frägt nichts nach solchen Rechnungen, sie ist da, weil sie da ist.» Ob nun der Horizont oder eine Wolkenwand die Sicht auf die Sonne blockiert oder der Kernschatten des Mondes alles dunkel werden lässt, ist doch eigentlich irrelevant. Dunkel wird’s – und das finde ich nie gut.
Als Hobbygärtner liebe ich die Sonne. Die Folgen der nächtlichen, durch die Dunkelheit bedingten Erdabkühlung wie Nebel, Frost oder Reif fürchte ich eher. Auch das plötzliche Verstummen der Singvögel bei der letzten Sonnenfinsternis 1999 fand ich unheimlich. So ganz verstanden habe ich den Ablauf einer Eklipse bis heute noch nicht, obwohl bereits unsere Primarlehrerin mit einem Medizinball (Erde) und einem Ping-Pong-Ball (Mond) einen Teil des Universums im Klassenzimmer nachbaute. Ich durfte die Taschenlampe halten, also quasi die Sonne darstellen. Ein Licht ist mir aber trotzdem nicht aufgegangen. Glücklicherweise gibt es aber künstliches Licht, auch für die wie mich, welche astronomisch nicht die Hellsten sind. So kann man die Nacht zum Tage machen, zum Beispiel, um Krankenkassenformulare und Buchhaltung zu erledigen ... Des Mondes, der Sterne, des Polar- und Zodiakallichts sei dankbar gedacht, die ein bisschen Glamour ins Dunkel bringen. Und natürlich der Sonne, die jetzt jeden Tag wieder länger scheint, mag sie auch ab und zu von irgendetwas verfinstert werden.
Gaffen macht immer Spass, und eine Sonnenfinsternis ist ein Event. Aber dunkel wird’s auf Erden jeden Abend und bei jeder Schlechtwetterfront. Doch nur die Hähne krähen danach, dabei unterscheidet sich diese Dun-
kelheit physikalisch nicht von der Eklipsendunkelheit. Die Leute brauchen Ereignisse, die ihnen von Medien oder Konzernen als bedeutend angepriesen werden. Sie reisen nach Santorini, um sich dort den Sonnenuntergang anzuschauen, obwohl der auch in Naxos und Niederbipp grossartig ist. Auch das grandiose Bild der blutroten Scheibe, vor ihr die filigranen schwarzen riesigen Baukräne des Zürcher Löwenbräuareals, interessierte niemanden. Oder die tägliche Dämmerung in der Berner Marktgasse. Die war 2013 ein besonders schönes Erlebnis: Die hässliche Grossbaustelle wurde fast unsichtbar, aber die Lauben leuchteten dank Stadtbeleuchtung sehr romantisch. Dunkelheit hat doch ihre guten Seiten. Aber die Eklipse habe ich aus Protest gegen dunkelmachende kosmische Mächte und aus Desinteresse nicht beobachtet. Wenn die nächste totale Sonnenfinsternis im September 2081 kommt, werden sie allenfalls mein dann 96-jähriger Sohn und meine 80-jährige Tochter beobachten können. Ihr Vater befindet sich dann schon längst im ewigen Dunkel. Oder im sonnendurchfluteten Jenseits. Wir werdens sehen. Falls uns die Eklipse nicht die Makula verbrannt hat …
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ARS MEDICI 6 I 2015