Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Urologie
Harnsteinabgang: Alphablocker und Nifedipin nutzlos
In den aktuellen Richtlinien zur Urolithiasis findet sich die Empfehlung, dass Alphablocker (u.a. Tamsulosin, Silodosin, Doxazosin, Terazosin, Alfuzosin) oder, in geringerem Mass, Nifedipin den Abgang eines Harnsteins erleichtern können. Demnach erhöhe sich die Wahrscheinlichkeit eines spontanen Steinabgangs um das Eineinhalbfache, der Patient müsse drei Tage weniger darauf warten und benötige weniger Schmerzmittel. Grundlage der Empfehlung für die sogenannte MET (medical expulsive therapy) sind mehrere Metaanalysen und ein Cochrane-Review der «zahlreichen, teilweise durch methodische Schwächen gekennzeichneten RCT», wie es in einer gerade aktualisierten Richtlinie heisst (1). Man ist sich also durchaus bewusst, dass diese Empfehlung nicht auf einem allzu soliden Fundament steht. Nun fand ein britisches Team heraus, dass es gar keinen klinisch relevanten Unter-
schied macht, ob man einem Patienten mit einem Harnstein bis zu 10 mm Durchmesser einen Alphablocker oder Nifedipin oder Plazebo verabreicht (2). Die Studie wurde an 24 Spitälern des National Health Service in Grossbritannien mit insgesamt 1167 Patienten durchgeführt. In die Studie aufgenommen wurden Patienten mit akuter Harnsteinkolik im Alter von 18 bis 65 Jahre, bei denen auf einen spontanen Steinabgang gewartet werden konnte; der Stein wurde per CT bestätigt und ausgemessen. Die Patienten wurden nach dem Zufallsprinzip in drei Gruppen aufgeteilt: Tamsulosin 400 µg/Tag, Nifedipin 30 mg/ Tag oder Plazebo für vier Wochen. Primärer Endpunkt der Studie war die Frage, wie viele von ihnen im Lauf dieser vier Wochen einer weiteren Intervention zum Harnsteinabgang bedurften. Es fand sich kein Unterschied: Egal, ob Plazebo (20%), Tamsulosin (19%) oder Nifedipin (20%) – jeder fünfte Patient
benötigte eine weitere Intervention, bei allen anderen kam es offenbar zu einem spontanen Harnsteinabgang. Obwohl man in der Studie darauf verzichtete, das Verschwinden des Harnsteins per Bildgebung zu bestätigen, sei nun völlig klar, dass man von diesen Medikamenten in der Tat keinen Nutzen für den Patienten erwarten dürfe, schreiben Prof. Jean de la Rosette und Dr. M. Pilar Laguna, Universität Amsterdam, in einem begleitenden Editorial (3). Es stelle sich jetzt nur noch die Frage, wie lange es dauert, bis diese neue Erkenntnis in den einschlägigen Richtlinien berücksichtigt werden wird.
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1. Arbeitskreis Harnsteine der Akademie der Deutschen Urologen: S2k-Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Metaphylaxe der Urolithiasis. www.awmf.org, Leitlinie 043/025, Juni 2015. 2. Pickard R et al.: Medical expulsive therapy in adults with ureteric colic: a multicentre, randomised, placebo-controlled trial. Lancet 2015; 386: 341–349. 3. de la Rosette J, Laguna MP: Ureteric colic: evidence empowers responsible treatment. Lancet 2015; 386: 315–316.
Infektiologie
Schluckimpfung gegen Helicobacter pylori
Die bisherigen Versuche, eine Impfung gegen Helicobacter pylori zu entwickeln, waren nur mässig erfolgreich. Die Autoren einer kürzlich publizierten Studie – der ersten Phase-III-Studie einer Helicobacter-Vakzine und der ersten Studie, die mit Kindern durchgeführt wurde – berichten nun erstmals von einer Vakzine, die mehr Erfolg verspricht (1). Die Studie wurde in China mit Kindern im Alter von 6 bis 15 Jahren durchgeführt, die noch nicht mit Helicobacter pylori infiziert waren. Jeweils 2232 Probanden erhielten dreimal den Impfstoff oder ein Plazebo (Tag 0, 14 und 28). Der Begriff «Schluckimpfung» bedeutete allerdings nicht das Schlucken von ein paar Tropfen Impfstoff, wie man das von anderen oralen Impfstoffen kennt. Die Kinder mussten vorher mindestens zwei Stunden fasten und zwei Minuten vor dem Schlucken des Impfstoffs 80 ml
einer Pufferlösung trinken, um im Magen das passende Milieu für den Impfstoff zu bereiten. Der Impfstoff selbst war dann in weiteren 30 ml Flüssigkeit zu schlucken. Im ersten Jahr nach der Impfung kam es bei den geimpften Kindern zu 14 Helicobacter-pylori-Infektionen, in der Plazebogruppe etablierte sich der Magenkeim bei 50 Kindern. Dies entsprach einer Wirksamkeit von rund 72 Prozent (95%-Konfidenzintervall: 48,2–85,6). Es fanden sich keine wesentlichen Unterschiede im Nebenwirkungsprofil zwischen Verum- und Plazebogruppe. Die Schutzwirkung scheint mit der Zeit wieder abzunehmen. Nach drei Jahren betrug sie noch rund 65 Prozent (95%Konfidenzintervall: 46,8–76,9). In einem Kommentar würdigt Prof. Philip Sutton, Universität Melbourne, die Studie als wichtigen Schritt in der Ent-
wicklung einer Impfung, die letztlich vor Magenkrebs schützen könnte. Ebenso wie die Studienautoren weist er darauf hin, dass die Galenik des Impfstoffs noch weiterentwickelt werden muss, zumal es danach aussieht, dass Boosterimpfungen nötig sein dürften. Ein kritischer Punkt sei das Adjuvans LTB (hitzelabiles Enterotoxin von E. coli), schreibt Sutton. LTB führte zum Aus für einen nasal applizierten Influenzaimpfstoff, weil es via Nasenschleimhaut den Fazialisnerv befallen und zu einer Lähmung führen kann. Eine extrem seltene Nebenwirkung, die nach Ansicht der Behörden trotzdem für einen Massenimpfstoff nicht akzeptabel war. Die Zulassungsbehörden könnten darum «die Stirn runzeln», so Sutton, wenn LTB erneut als Adjuvans in einem via Schleimhaut applizierten Impfstoff enthalten ist.
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1. Zeng M et al.: Efficacy, safety, and immunogenicity of an oral recombinant Helicobacter pylori vaccine in children in China: a randomised, double-blind, placebo-controlled, phase 3 trial. Lancet, published online July 1, 2015. 2. Sutton P: At last, vaccine-induced protection against Helicobacter pylori. Lancet, published online July 1, 2015.
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ARS MEDICI 14/15 I 2015
Neurologie
Alterskrankheit Epilepsie
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Rückspiegel
Epilepsie im Alter werde leider häufig übersehen und nicht angemessen therapiert, so Dr. med. Günter Krämer, Präsident der Schweizerischen Liga für Epilepsie. Dabei seien Epilepsien mittlerweile die dritthäufigste Erkrankung des Nervensystems nach Demenz und Schlaganfall. Aufgrund des wachsenden Anteils der über 65-Jährigen werde die Epilepsie zu einer «Alterskrankheit». Bereits jetzt seien davon mehr Ältere als Kinder und Jugendliche betroffen, schreibt Krämer in einem Beitrag des Onlineportals www.senline.ch Zwei nicht provozierte epileptische Anfälle im Abstand von mindestens 24 Stunden gelten als diagnostisches Kriterium für eine Epilepsie im Alter – sofern der Anfall als solcher überhaupt erkannt wird. Fehldiagnosen drohten beispielsweise bei älteren Patienten mit
Diabetes oder Arrhythmien. Auch hinter Ver-
haltensstörungen, Synkopen, Schwindel oder
Gedächtnisstörungen könnte eine Epilepsie
stecken. Ist die Epilepsie aber erst einmal er-
kannt, gebe es gute Behandlungsoptionen,
betont Krämer.
Wie auch bei Kindern und Jugendlichen findet
man nicht immer eine klare Ursache für die
Epilepsie. Die potenziellen Ursachen bei den
älteren Patienten sind vielfältig. Bei jedem
zweiten Betroffenen seien zerebrale Durch-
blutungsstörungen nachweisbar, so Krämer.
Auch Demenzen können epileptische Anfälle
provozieren, ebenso können Medikamente
wie Antibiotika und Neuroleptika die Krampf-
schwelle senken.
RBOO
Günter Krämer: Epilepsie im Alter. www.senline.ch, 26. Juli 2015.
Palliativmedizin
«Sterbefasten» häufiger als angenommen
Sterbefasten komme in Deutschland häufiger vor als vielfach angenommen, heisst es in einer Pressemitteilung anlässlich zweier Publikationen zu diesem umstrittenen Thema (1). Der Medizinethiker Prof. Alfred Simon, die Psychologin PD Dr. Micha Strack und die Ärztin Nina Luisa Hoekstra, Universität Göttingen, befragten 714 zufällig ausgewählte Ärzte mit Weiterbildungsermächtigung in Palliativmedizin oder Allgemeinmedizin mittels Fragebogen und anhand von Fallvignetten (2). Ein gutes Drittel der befragten Ärztinnen und Ärzte schickten den Fragebogen ausgefüllt zurück (n = 255; 36%). Von diesen 255 Befragten hatten fast zwei Drittel der Hausärzte und Palliativmediziner in den letzten fünf Jahren mindestens einen Patienten beim Sterbefasten begleitet. Jeder Fünfte praktizierte dies im Durchschnitt einmal pro Jahr. Ob Ärzte den Patienten beim Sterbefasten unterstützen dürfen, ist umstritten. Viele sähen darin eine berufsrechtlich verbotene Hilfe zur Selbsttötung, schreibt Simon. Er hält dagegen, dass sich die ärztliche Betreuung beim Sterbefasten auf menschliche Zuwendung und das Lindern von Schmerzen, Atemnot und Mundtrockenheit beschränke und zu die-
ser Basisversorgung jeder Arzt sogar ver-
pflichtet sei. Simon hat allerdings Verständnis
dafür, dass einige Ärzte dies anders sehen.
Wer moralische Bedenken gegenüber dem
Sterbefasten habe, solle einen Kollegen bit-
ten, die Begleitung zu übernehmen, rät der
Medizinethiker. Wichtig für die Sterbebeglei-
tung sei, dass sich der Arzt im Gespräch mit
dem Patienten davon überzeugt, dass der
Sterbewunsch wohlüberlegt ist und nicht auf
sozialem Druck oder einer psychischen Er-
krankung beruht. «Das Sterbefasten sollte für
Patienten die letzte Möglichkeit sein, eine un-
erträgliche Leidenssituation zu beenden», so
Simon. Nach seiner Erfahrung sei der Hun-
gertod keinesfalls qualvoll. Die meisten Au-
genzeugen würden ihn als überwiegend fried-
lich und nicht leidvoll beschreiben. Er komme
dem Bild eines natürlich Sterbenden sehr
nahe (3).
RBO/ThiemeO
1. Pressemitteilung des Thieme-Verlags, Juli 2015. 2. Hoekstra NL, Strack M, Simon A: Bewertung des freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit durch palliativmedizinisch und hausärztlich tätige Ärztinnen und Ärzte. Ergebnisse einer empirischen Umfrage. Z Palliativmed 2015; 16 (02): 68–73. 3. Simon A, Hoekstra NL: Sterbefasten: Hilfe im oder Hilfe zum Sterben? DMW Dtsche Med Wochenschr 2015; 140(14): 1100–1102.
Vor 10 Jahren
Homöopathie
Ein Team der Universität Bern publiziert in der Zeitschrift «The Lancet» eine statistische Untersuchung plazebokontrollierter Studien. Diese zeigt, dass die Evidenz für eine spezifische homöopathische Wirkung nur sehr schwach ist. Anders bei den klassischen Medikamenten: Hier ist die Evidenz für eine spezifische Wirkung hoch. Bei der Homöopathie ist demnach nicht die Substanz wichtig, entscheidend für die Wirkung sind hier Kontextfaktoren – der klassische Plazeboeffekt. Weitere plazebokontrollierte Studien seien in der Homöopathie darum sinnlos, vielmehr solle man sich künftig auf die Erforschung der Kontextfaktoren konzentrieren.
Vor 50 Jahren
Computermedizin
Der Direktor der «Medical Automation Unit» am University College Hospital in London freut sich auf die neuen Möglichkeiten, die Computer für Diagnose und Therapie versprechen. Während man heutzutage nur auf das zurückgreifen könne, was man als Arzt im Gedächtnis habe, würden Computer dereinst den Zugriff auf umfassende Informationen erlauben, schreibt er im «British Medical Journal» in einer Entgegnung auf kritische Stimmen, für die eine Diagnose per Computer eine Horrorvision ist.
Vor 100 Jahren
Desinfektion
Der Chemiker Henry Dakin propagiert eine neue Desinfektionslösung auf der Basis von Natriumhypochlorid. Dass diese Substanz zur Wundreinigung geeignet ist, hatte bereits fast 100 Jahre zuvor der Franzose Antoine Germain Labarraque entdeckt. Ein Vorteil seiner Lösung sei, dass sie die Haut viel weniger reize, so Dakin. Bis heute hat sich die Bezeichnung «Dakin’s Solution» gehalten.
RBO
ARS MEDICI 14/15 I 2015