Transkript
EDITORIAL
Nicht Tag noch Stunde
M edia vita in morte sumus – so lauten die ersten Zeilen eines Chorals, die in vielen Predigten und Grabreden zitiert werden. In der Tat: Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen, doch wir kennen nicht Tag noch Stunde, wann es für jeden von uns so weit sein wird. Ungewissheit hält der Mensch nur schlecht aus, und so sucht er seit je auch für diese Frage nach Antworten – in den Sternen, in der Kristallkugel eines Hellsehers oder bei sonst einem Orakel. Das tun viele auch heute noch, aber anders als zu früheren Zeiten nutzt man mittlerweile weniger die altbewährte Kristallkugel als das Internet. So findet sich seit Kurzem unter www.ubble.co.uk ein ganz einfacher Test, mit dem man angeblich sein Sterberisiko innert der nächsten fünf Jahre bestimmen kann, zumindest wenn man in Grossbritannien lebt und zwischen 40 und 70 Jahre alt ist. Das Sterberisiko wird sowohl in Prozent als auch ganz anschaulich als Alter angegeben, das diesem Sterberisiko normalerweise entspricht. Probieren Sie es ruhig einmal aus. Wenn man halbwegs gesund ist und nicht raucht, kommt in der Regel nur ein recht niedriges Sterberisiko heraus. Das ist nicht erstaunlich, denn das ist in dieser Altersgruppe zu erwarten. Wirklich erstaunlich sind die Fragen. Diese hätten sich nach äusserst komplexen statistischen Be-
rechnungen als besonders nützlich für die Ermittlung des Todesrisikos herausgestellt, schreiben die Autoren der Publikation, die dem Internetorakel zugrunde liegt (1). Neben erwartbaren Fragen nach Alter, Geschlecht, dem Rauchen oder bestimmten Krankheiten werden die Männer unter anderem nach der Anzahl ihrer Autos gefragt, die Frauen hingegen nach der Anzahl ihrer Kinder … Am stichhaltigsten war nach Aussage der Autoren jedoch die Selbsteinschätzung der Befragten. Als besten Prädiktor nennen sie die selbst eingeschätzte Gehgeschwindigkeit sowie – wenn man die Personen mit schweren Grunderkrankungen weglässt – das Rauchen. Das erstaunt nun wieder nicht. Dass Rauchen die Lebenszeit verkürzt, wissen wir schon lange. Auch die Gehgeschwindigkeit als Parameter für Fitness und Lebenserwartung ist ein ganz alter Hut. Als Beispiel sei hier nur eine von vielen Studien der letzten Jahre genannt, in welcher Alter, Geschlecht und Gehgeschwindigkeit als völlig ausreichende Parameter für die realistische Einschätzung der Lebenserwartung eines Patienten bestätigt wurden (2). Eine Einschätzung, die Hausärzte in der Praxis übrigens schon lange tagtäglich genau anhand dieser drei Parameter – Alter, Geschlecht, Gehgeschwindigkeit – mehr oder weniger intuitiv durchführen. So erzählte mir einmal ein Hausarzt, dass er den Allgemeinzustand seiner etwas älteren Patienten ganz einfach dadurch ermittle, indem er sie bittet, doch rasch mit ins Nachbarzimmer zu kommen, weil er dort noch eine spezielle Untersuchung machen wolle. Anhand der Zeit, die sie dafür brauchen, wisse er dann schon, wie es um sie bestellt sei. Eine Antwort allerdings kann freilich weder dieser Arzt noch sonst jemand und auch kein noch so ausgefeiltes statistisches Orakel geben: Wann Tag und Stunde für einen ganz bestimmten Menschen tatsächlich gekommen sind. Und das ist gut so.
Renate Bonifer
1. Ganna A, Ingelsson E: 5 year mortality predictors in 498 103 UK Biobank participants: a prospective population-based study. Lancet, published online June 4, 2015. 2. Studenski S et al.: Gait speed and survival in older adults. JAMA 2011; 305(1): 50–58.
ARS MEDICI 14/15 I 2015
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