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Arsenicum: Den Mund lustvoll voll genommen
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Den Mund lustvoll voll genommen

arsenicum
D en chinesischen Esstisch haben wir nicht gekauft. Obwohl er Genuss garantiert. Rund, mit Platz für 6 bis 12 Esser. Auf dem drehbaren Marmoreinsatz in der Mitte stehen Dutzende von köstlichen Speisen. Man sitzt mit seinem Reisschüsselchen vor sich, dreht den Einsatz, nimmt von Platten und aus Schüsseln was einen lockt und tut es in seine Reisschale. Probiert und nascht dann von der nächsten Schüssel. Kein «bitte schön», kein «danke schön», kein umständliches Herumreichen, sondern nur fröhliches Essen und Probieren. Die Stimmung ist grossartig – wenn sie doch an jedem runden Tisch so gut wäre. Es wird gelacht, geredet, geschlemmt. Einzige Schwierigkeit sind die Stäbchen, aber bald essen wir schon so manierlich wie dreijährige Chinesen. Bis zum siebten Lebensjahr dürfen Kinder den Porzellanlöffel zu Hilfe nehmen. Wir geben uns jung und tun es auch. Nach wenigen Tagen haben wir Fortschritte gemacht und essen wie Fünfjährige. Die erstaunlichsten Sachen landen in unseren Mündern: Tofu in allen Farben und Formen, grüne kalte Spaghetti, etwas Glitschiges mit Biss, Seetang und Quallen. Das erfahren wir meist erst nachher. Wenn uns chinesische Freunde nicht begleiten, essen wir experimentell durch willkürliches Deuten auf die chinesische Speisekarte oder auf die Plastikmodelle der Speisen in den Schaukästen. Für asiatische Gastronomen sind wir ein Quell der Heiterkeit. Als wir zum ersten Mal in Taiwan Shabu-Shabu assen – Topf mit Brühe auf einem Gaskocher auf dem Tisch, undefinierbare Gegenstände sowie riesige Tabletts mit Gemüse in einem Kühlbuffet – haben wir alles in die Boullion getan. Auch die zum Würzen gedachten Saucen. Die Kellnerinnen lachten sich schlapp, versuchten mit Handzeichen zu erklären. Uns schmeckte es gut. Auch die Schweinehoden. In Taiwan und Bei-

jing können viele Menschen Englisch. Falls nicht, hilft uns unser Lost-Planet-Sprachführer – wir schlagen ihn auf und deuten auf das Wort. Denn bei einer tonalen Sprache wie Mandarin liegt man mit der Aussprache meist falsch – man hat vier Chancen den falschen Ton und damit das falsche Phonem zu erwischen. Unser Gastgeber schrie vor Lachen, als meine Frau auf Chinesisch ausdrücken wollte, dass sie Mutter sei, aber wegen des falschen Tons im Wort «Ma» sagte, dass sie das Ross dreier Kinder sei. Wenn man die Arbeitslast anschaut, die sie bewältigt, stimmt das ja schon mit dem Arbeitspferd. Chinesen haben oft einen westlichen Zusatznamen, weil Westler ihre Namen nicht korrekt aussprechen können. Chung Ning heisst Nina. Han nennt sich Hans für Deutschsprachige und Hank für Anglophone. Neben Taiwanesisch, Hakka, Mandarin und Englisch spricht er auch Deutsch. «Nimm den Mund voll!», ermutigt er mich bei Tische. Nun, das ist mir noch nie schwer gefallen. In jeder Hinsicht nicht. Aber hier schmeckt es besonders gut. Pekingente bei Dadong – ein Traum! Bevor ich noch mehr zunehme, geht es weiter nach Japan …

294 ARS MEDICI 8 ■ 2010