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Titel
Arsenicum: Rauthentisch
Untertitel
-
Lead
Meine junge Goth-Patientin seufzte, als ich ihr in dürren Worten erklärte, was der Dermatologe nur dezent angedeutet hatte: Ihre Psoriasis würde ein Leben lang bleiben, inklusive Pruritus und Köbner-Phänomen. Eine düstere Prognose für eine schöne junge Frau, insbesondere angesichts der weitreichenden Ausbreitung auf ihrer Haut und der starken Aktivität der Erkrankung, die immer wieder Kortison erforderte. Sie strich sich mit der schmalen weissgeschminkten Hand mit dunkelbordeauxfarbigen Krallennägeln über den rabenschwingenfarbenen Gaultier-Panne-Samt-Jupe und witzelte – passend zum morbiden Styling – mit pechschwarzem Humor: «Okay.
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Rauthentisch

M eine junge Goth-Patientin seufzte, als ich ihr in dürren Worten erklärte, was der Dermatologe nur dezent angedeutet hatte: Ihre Psoriasis würde ein Leben lang bleiben, inklusive Pruritus und Köbner-Phänomen. Eine düstere Prognose für eine schöne junge Frau, insbesondere angesichts der weitreichenden Ausbreitung auf ihrer Haut und der starken Aktivität der Erkrankung, die immer wieder Kortison erforderte. Sie strich sich mit der schmalen weissgeschminkten Hand mit dunkelbordeauxfarbigen Krallennägeln über den rabenschwingenfarbenen Gaultier-Panne-Samt-Jupe und witzelte – passend zum morbiden Styling – mit pechschwarzem Humor: «Okay. Wenigstens rieselt es eklige weisse Schuppen, wenn ich mich kratze. Echt goth.» «Und es blutet drunter», nickte ich, «also Gruselfaktor-Plus.» Während ich mich noch über diese geschmacklose Äusserung schäme, die mir da rausgerutscht ist, kreischt sie derartig los vor Lachen, dass Edward Cullen noch bleicher geworden wäre. «Sie sind echt rauthentisch!», kichert sie. «Authentisch?», frage ich. «Nein, rauthentisch! Ein knallhartes Original. Kein Gesülze. Wahrheit pur, on the rocks. Megacool!» Mein kluger Sohn erklärte mir später, dass dieses Wortspiel in seiner Peer-Group nicht nur hohes Lob bedeute, sondern auch längst kommerziell genutzt würde. Speziell teure Jeans würden unter dem Label «rawthentic denims» vertrieben. Und in der Musikbranche gäbe es das Label «Rawthentic Music», welches 2005 von den Brüdern Nathan und Jason Barato gegründet worden sei und «the grittier, more stripped down sounds of house and techno» verträte. Und die hätten das Bonmot vom amerikanischen Bluessänger Bobby Whilcock abgekupfert, der damit den Sound von Eric Clapton beschrieben habe. Ob ich über meine Charakterisierung als Rauthentiker froh bin, weiss ich nicht. Doch wenn ich rekapituliere, was ich meinen PatientInnen alles sage, dann kann ich mich dem Wahrheitsgehalt nicht verschliessen. «Sie haben ein Alkoholproblem», säusele ich und bereite mich auf die Abwehr des Patienten vor, die von Bagatellisieren über «Nein, ich kann jederzeit Aufhören» bis zum türenknallenden Arztwechsel reichen kann.

Zur alten Dame, die mit ihrer Handtasche nestelt, sage ich: «Nun, einen Alzheimer kann ich nicht bestätigen». (Klar, das kann nur die Hirnbiopsie …) Ihre Augen leuchten hoffnungsfroh auf, bis ich fortfahre: «Aber mit einer Verschlechterung Ihrer geistigen Fähigkeiten müssen wir rechnen». «Ja, es ist Krebs», sage ich sicher dreissig bis fünzigmal pro Jahr, bei der Neodiagnose einer Neoplasie. Denn es ist ja der Hausarzt, der den ersten Verdacht schöpft, die Biopsie entnimmt, einschickt und das Ergebnis erhält. Er muss die Botschaft seinen PatientInnen überbringen. Nicht der Pathologe. Und nicht der Onkologe, der Chirurg, der Radioonkologe, die alle eher in der Retterrolle zum Behandlungsteam dazustossen. Da sitzt man dann also mit der Patientin, die bald verstümmelt werden wird. Mühsam hat man sich für dieses Gespräch eine Dreiviertelstunde freigeschaufelt, die jedoch viel zu kurz ist. Hat schon tröstende Literatur und die Adresse von «Leben wie zuvor» parat gelegt. Man ist erleichtert, dass sie es gefasst, vernünftig, tapfer aufnimmt. Vereinbart einen Folgetermin. Und weiss, dass zwar nur 24 Stunden dazwischen liegen, aber dass dies die schlimmsten sein werden, die diese Patientin bis jetzt erlebt hat. Beim Folgetermin kommt der Ehemann mit, schockiert, aufgewühlt, fast verstummt. Er hat tausend Fragen, die er alle nicht herausbringt. Die Patientin aber schafft es. «Haben Sie Bilder von Frauen, die brusterhaltend operiert wurden? Und von denen, die ein Implantat haben?» Habe ich. Professionelle Fotos vom Plastiker: das Vorher-Bild in Schwarzweiss, grobkörnig, kontrastreich. Das Nachher-Bild ist farbig, mit Weichzeichner, die Brust ist so schön, dass man sich quasi unters Messer wünscht. «Hmhm», murmelt sie skeptisch. Ihr Mann weint leise. «Hautpsache, du überlebst», flüstert er. Ich höre mich aalglatt die ausgezeichneten Mortalitätsstatistiken lobpreisen, die grossartigen Fortschritte der Medizin bejubeln, Bedenken gegen Chemotherapie verniedlichen. «Naja, aber es ist Krebs!», sagt die Patientin. Ich knalle die letzten Trümpfe auf den Tisch: Anastacia, Kylie Minogue, Cynthia Nixon, Gräfin Bernadotte. «Danke, dass Sie so ehrlich waren!», sagt die Patientin, als sie geht. Mit Tränen in den Augen. Das sind die Momente, in denen ich mich frage, warum ich nicht lieber Autoverkäufer geworden bin …

ARSENICUM

94 ARS MEDICI 3 ■ 2012